Südtirol
Vinophile Musikkultur
Brixen Classics heißt ein neues Festival, das leicht zugängliche Musik auf gutem Niveau an kulturhistorischen Veranstaltungsorten bietet. Ausgangspunkt für diese Idee war der Wein.
Stephan Burianek • 18. Juni 2021
Herrlich! Die erfrischende Dusche von den Sprinkleranlagen in den angrenzenden Apfelgärten kommt gerade recht. Obwohl es noch recht früh ist, strahlt die Sonne an diesem Junitag bereits kräftig auf das Eisacktal. Ich spaziere auf einer schmalen Straße, von Brixen kommend, einen Hang entlang. Auch in der Ebene, neben der Eisack, werden Apfelbäume bespritzt, was dank der Sonnenstrahlen faszinierende Regenbogen-Farbenspiele erzeugt.
Ich bin auf dem Weg zum Kloster Neustift, und je näher ich meinem Ziel komme, desto mehr weichen die Apfelgärten steilen Weinterrassen. Das Kloster Neustift zählt zu den geschichtlich bedeutendsten in der Region. Es wurde im 12. Jahrhundert von einem Probst gegründet, der zuvor in Klosterneuburg tätig war. Weil es zum Verbund der österreichischen Augustiner-Chorherren gehört, besteht zum Bruderkonvent nahe Wien immer noch eine enge Verbindung. Das nahe Brixen wurde nur zweihundert Jahre zuvor als Bischofssitz gegründet, um den Königszügen nach ihren beschwerlichen Alpenüberquerungen über den Brennerpass die nötige Erholung zu bieten – seit Karl dem Großen holten sich die deutschen Könige ihre Kaiserwürde bekanntlich persönlich im Vatikan, und das Eisacktal war ein fester Bestandteil der Route.
Tags zuvor fand in der barocken Stiftsbibliothek, die nur selten für Veranstaltungen genutzt wird, ein erstklassiges Konzert mit dem vielfach preisgekrönten Oboisten Albrecht Mayer statt. Am Programm standen Vivaldi und Johann Sebastian Bach. Das als „Chamber Delights“ betitelte Konzert war Teil des neuen Brixen Classics-Festivals, das von einem Ableger der örtlichen Tourismusbehörde veranstaltet wird. In diesem ersten Jahr wurden prominente Zugpferde aufgeboten: In dem Eröffnungskonzert im schmucken Innenhof der Brixener Hofburg sangen immerhin Camilla Nylund, Juan Diego Flórez und James Rutherford. Trotzdem blies den Organisatoren im Vorfeld ein kritischer Wind entgegen, wobei die vorgebrachten Argumente mitunter kurios anmuteten: Die verpflichteten Sänger:innen seien in Wahrheit nicht zu der ersten Riege zu zählen, schrieb ein großes Lokalblatt – damals hatte neben Nylund auch noch Piotr Beczała zugesagt, der sich dann aber zurückziehen musste und, auch nicht schlecht, durch Juan Diego Flórez ersetzt wurde. Außerdem wären kaum Südtiroler Künstler:innen vertreten. Abgesehen von der Tatsache, dass die Zahl an international renommierten Südtiroler Interpret:innen überschaubar sein dürfte, wurde am Premierenabend mit Anna Lucia Nardi immerhin eine Bozenerin aufgeboten. Die Mezzosopranistin mit mehrjähriger Erfahrung bei den Tiroler Festspielen Erl hatte es über eine Ausschreibung auf die Besetzungsliste geschafft.
Obwohl ich wegen der Musik hier bin, habe ich diese Reise letztlich dem Wein zu verdanken: Über die Konzerte soll nämlich der Eisacktaler Wein bekannter gemacht werden. Die Verbindung von klassischer Musik und Kulinarik bzw. Wein ist nicht neu – man denke etwa an das Rheingau-Festival oder das Herbstgold-Festival im Burgenland. Solche Konzepte passen gut in eine Zeit, in der die Hochkultur zunehmend den Nimbus des Religiösen verliert und daher gezwungen ist, sich auch einem weniger informierten Publikum zu öffnen. Solange die Qualität passt, ist dagegen wohl kaum etwas zu sagen.
Beim Oboenkonzert gab es nichts zu meckern: Im Ticketpreis war ein Kerner vom Stiftsweingut als Aperitif inkludiert (leere Gläser wurden wieder aufgefüllt), und es war wirklich erstaunlich, wie druckvoll, mineralisch und cremig ein Weißwein aus diesen nördlichsten Weingärten Italiens werden kann. Zumindest bei mir ist das Konzept der Veranstalter aufgegangen: Tags darauf besichtige ich ausgiebig das Kloster und kaufe mir danach so viele Flaschen, wie noch in meinen Koffer passen.
Abends dann das nächste Highlight: Mit einem Shuttlebus geht es von Brixen ein paar Kilometer in den Süden, zum Schloss Pallaus. Es ist in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden, aber der Eigentümer hat seinen Garten als Austragungsort für ein Freiluftkonzert mit dem Titel „A Midsummernight’s Dream“ geöffnet. Bereits vor der Abfahrt werden die Covid-Zertifikate geprüft. Für den Fall, dass Besucher ihren Nachweis vergessen haben, steht ein mobiler Testwagen bereit, der in nur fünfzehn Minuten grünes (oder rotes) Licht geben kann. Das ist freilich nur ein Back-up und wurde vorab nicht kommuniziert, schafft aber Vertrauen in die Festivalorganisation – und rettet tatsächlich manchem den Besuch.
Der Garten ist ein Hit: Die Bühne wurde vor einer hohen Mauer errichtet, darüber thront das massive Schloss, mit Türmchen an den Ecken und einem sechseckigen Wohnturm in der Mitte – eine wunderbare Kulisse. Ein schmaler Teich trennt die Bühne von den leicht abschüssigen Zuschauerreihen – die bei allen Veranstaltungen der Brixen Classics übrigens voll belegt sein dürfen. An vier Ständen schenken jeweils ein Weingut einen Wein aus: Sylvaner, Riesling, Kerner, Sauvignon Blanc. Ein weiteres Zelt versorgt die Gäste mit meisterhaft belegten Brötchen, Bier und Wasser. Das tendenziell leger gekleidete Publikum wirkt freudig-entspannt – man kommt des Genusses Willen und nicht, um gesehen zu werden. Schön!
Das Programm besteht aus kurzweiligen Häppchen von Wagner, Strauss und Mendelssohn-Bartholdy, der Moderator Axel Brüggemann verstärkt den Appetit darauf. Das Brixen Classics Festivalorchester unter der Leitung von Daniel Geiss startet mit dem «Siegfried-Idyll». Das Orchester setzt sich aus jungen Musikern zusammen, die der musikalische Leiter der Brixen Classics und des Belgrade Chamber Orchestras im Rahmen seines „Klanglabor“-Ausbildungsprojekts, an dem renommierte Musiker als Stimmführer agieren, gefunden hat. Man will bei der Beurteilung des Orchesterklangs daher nicht allzu beckmesserisch sein – vielleicht liegt es auch an der Tonanlage. Camilla Nylund, in diesem Jahr Artist in Residence, singt Strauss‘ «Morgen».
Eigentlich gilt in Italien noch bis zum kommenden Montag die Maskenpflicht auch im Freien, aber darauf wird an diesem Abend trotz diesbezüglicher Ansage großteils gepfiffen. Das überrascht nicht: Erstens wurden die Test- und Impfzertifikate am Eingang streng überprüft, zweitens tendieren die Inzidenzzahlen derzeit gegen Null und drittens weht ein angenehmer Wind, der den bösen Aerosolen kaum eine Chance bieten dürfte.
Ein paar hundert Meter weiter wünscht man sich indes gar keinen Wind: Gelegentlich begleiten Folgetonhörner die Musik – im Rücken des Publikums brennt der Wald. Eigentlich müsste man ihm und seinen Einwohnern einen Regenguss wünschen, hofft dann aber doch, dass die Feuerwehr ohnehin alles im Griff hat sich und sich die dunklen Wolken woanders entladen. Nur gelegentlich ziehen die Rauchschwaden in unsere Richtung, das Publikum bleibt entspannt – das kommt hier wohl öfters vor.
Ungewöhnlich ist auch die Reihenfolge der Werke, denn Saint-Saëns «Karneval der Tiere» würden die meisten Musikdramaturgen vor Wagner und Strauß platzieren, im Schlossgarten kommt dieses Werk als Highlight nach der Pause. Axel Brüggemann bezieht nicht nur Brixen und das Schloss Pallaus in die Tiergeschichte ein, sondern auch den Regen, der dann doch noch loslegt, das Konzert dank verteilter Plastikponchos aber nicht gefährdet (die Bühne selbst ist überdacht, für die Instrumente besteht keine Gefahr). Nach dem bejubelten Konzertende ist der Brand gelöscht.
Während ich am Folgetag auf der Zugfahrt nach Hause diesen Artikel schreibe, ist im Umland von Brixen eine musikalische Wanderung zu drei Konzerten in drei Weingütern im Gange – zwei Nächte waren eindeutig zu wenig. Das Festival wird aber im kommenden Jahr wieder stattfinden, dann werde ich mit der Gondel auf den Brixener Hausberg, die Plose, fahren und mir das Schloss Velthurns, die einstige Sommerresidenz der Fürsterzbischöfe südlich von Brixen, ansehen. Die Eisacktaler haben mit einer gelungenen Mischung aus Natur, Kultur und Kulinarik ein Fundament gelegt, von der die Region profitieren könnte. Jetzt muss sich das nur noch herumsprechen.