Theater Bonn

Verrückter im Knast

Zwei Rezensionen über den ausgegrabenen Geniestreich «Die Ameise» des tragisch zu früh verstorbenen Peter Ronnefeld | 1/2 – Daniela Klotz

Daniela Klotz • 16. Dezember 2025

Der Lehrer und seine Schülerin bzw. der Gefangene und die Ameise: Dietrich Henschel und Nicole Wacker © Bettina Stöß

„Ein Verrückter steht vor uns.“ – „Nein, ein Simulant!“ Aufgeregt schreit der Chor der Prozessbesucher durcheinander. Sie besuchen regelmäßig Prozesse, wie den hier, bei dem es um «Die Ameise» geht und können sich ein Urteil erlauben, tönt es in stark akzentuierten hohen und tiefen Tönen. Der Klang, den André Kellinghaus dem Chor des Theaters Bonn antrainiert hat, ist plastisch-orgiastisch wie Constanza Meza-Lopehandías Kostüme, die irgendwo zwischen „Cabarett“, „Chicago“ und „Babylon Berlin“, eine Welt herauf beschwören, die genauso vielschichtig und irrwitzig ist wie die Komposition, die an diesem Abend in Bonn auf die Bühne kommt.

Komponist Peter Ronnefeld und Librettist Richard Bletschacher sollen bei der Arbeit an diesem völlig verrückten Stück perfektionierter Surrealität einen Heidenspaß gehabt haben. Sogar die durchaus geteilte Reaktion des Publikums am Abend der Uraufführung erfüllte sie mit schierer Freude. Bei der „Wiederentdeckung“ in Bonn, das darf vorweggenommen werden, gab es nichts als reine Begeisterung. Für das durchweg großartige Ensemble, vor allem aber für Daniel Johannes Mayr und das Beethoven Orchester Bonn. 

Die Partitur, erdacht von einem Jungen Wilden, der von Karajan bis Harnoncourt alle beeindruckte, und sie als Dirigent, als Pianist und Korrepetitor, sowie als Komponist in die Tasche steckte, ist „der Wahnsinn“, wie Mayr im Programmheft am Ende seiner detaillierten Analyse der musikalischen Struktur der Oper sagt. Eine Herausforderung, die sich einmal quer durch alle Epochen und Stilrichtungen der Musikgeschichte arbeitet und sich mit höchster Leichtigkeit einverleibt, ein musikgewordener „Ubu roi“. Dabei ist jede Note sorgsam auf die jeweilige Szene abgestimmt. Vom dramatischen über den lyrischen und den komödiantischen bis zum tragischen Akt. 

Vieles, wie es sich für große Opernmusik gehört, bleibt ungesagt. In Bonn illustriert Regisseurin Kateryna Sokolova das mit intensiv singenden und spielenden Sänger-Schauspielern. Minutenlang spielen so Geste gewordene Musik und Musik gewordene Geste ineinander. Am Ende, das, auch das sei vorweggenommen, nicht der Vorlage des Librettos entspricht, ist endgültig vollkommen unklar, ob es einen Mord gab oder nicht, ein Irrer oder ein Simulant oder ein Betrunkener oder sonstwer inmitten des Geschehens steht, Realität oder Fiktion oder ein philosophisches Gedankenexperiment stattgefunden hat. 

Um was geht es denn aber nun? Der renommierte Gesangslehrer Salvatore hatte auf Drängen der überkandidelten Mama das 16-jährige Naturtalent Formica als Schülerin in sein Haus aufgenommen. Nun ist er angeklagt, sie ermordet zu haben. Im Affekt, weil sie ihn verlassen wollte, um ihm durch eine große Karriere zu danken. Mit pointierter Stereotypie produziert und betrauert Susanne Blattert das begabte Kind. Mit jeder Faser verkörpert Dietrich Henschel den Lehrer, der an „seiner“ Schöpfung leidet wie Pygmalion an Galathée. Mit der vollen Bandbreite zwischen kindlicher Unschuld und der vollen Macht des „Bühnentiers“ Koloratursopran verkörpert Nicole Wacker Formica, das „Weib aus Blut und Erde“ und „das Tier“. 

Salvatore kann beide nicht hergeben. Im Leben nicht, in der Fantasie nicht, nie. Und nun will sie ihn verlassen? Immer und immer wieder läuft die Szene durch. Die Staatsanwältin (Svenja Wasser) kann noch so mit der Peitsche schlagen, Verteidiger (Roland Silbernagl, auch als Gefängnisgeistlicher / Gefängnisdirektor) sich in kuriosen Windungen mühen. Es ist wie bei Wittgensteins Schürhaken: Hat er Popper nun damit angegriffen oder waren beide am Ende gar nicht an dem Abend in dem Raum in Cambridge? Formica schüttelt immer wieder den Kopf, geht immer wieder in die Anfangsposition. Salvatore leidet ergeben an der Liebe, die er sich nie auszuleben gestattet. Mark Morouse als Professor Mezzacroce bezeugt das, nicht uneigennützig, aber doch. Ralf Rachbauer als Diener Salvatores assistiert bestens.

Salvatore wird letztlich verurteilt und freundet sich in der Einsamkeit der Zelle mit einer Ameise an. Ihr, deren Gattungsname dem der verlorenen Schülerin gleicht, will er das Singen beibringen. Wohlbehütet trägt er sie in einer Schachtel bei sich und holt sie zum Unterricht auf seinen Zeigefinger. Der Gefängniswärter (Ján Rusko), der diese Ameise unbedingt für seine Sammlung haben möchte, bringt ihn täglich mit seinen Tänzeleien aus dem Konzept. Die beiden zeitweiligen Zellengenossen, Carl Rumstadt als Fassadendieb und Tae Hwan Yun als Taschenkletterer, stören ihn nächtens durch die Liebeslaute, die ihnen die Träume von gewesenen Geliebten abringen.

Die Szene der beiden Knastbrüder ist köstlich. Während der eine von seinen Fassadenabenteuern erzählt, gibt der andere das Bühnenorchester, in dem Fall ein Kochtopfschlagwerk. Umgekehrt assistiert der eine mimisch und wie so oft hochoriginell musikalisch illustriert dem anderen bei dessen traurigstem Liebeserlebnis. Als Salvatore von seiner keuschen Liebe zu Formica berichtet, verurteilen sie ihn zu lebenslänglich. Noch einmal träumt Salvatore von seiner Formica, die sich einen Spaß daraus machte, ihn als sich ihrer selbst bewusst werdende Frau zu narren, ihn als solche zu begleiten, sich bewundern zu lassen, den armen Alten ob seiner Selbstzucht zu quälen. Wenn wir die Musik einmal vollständig aufschlüsseln, erfahren wir vielleicht, was wirklich passiert ist.

Am Ende ist alles Cabaret. Salvatore (Dietrich Henschel) präsentiert seine Kunstfigur Formica. Der Gefängniswärter (Ján Rusko) zieht auch hier die Strippen © Bettina Stöß

Jahre nach dieser Episode scheint es Salvatore gelungen, seiner kleinen tierischen Ameisenfreundin das reine A und all die Kniffe und Künste der Koloratursopranistin beigebracht zu haben. Mit besagten das Innere nach Außen kehrenden Choreografien und mit Hilfe eines bezaubernden Schattenspiels stellt Regisseurin Sokolova all das dar. 

Doch dann wird Salvatore freigesprochen. Wo soll er hin? Er entscheidet sich für ein Cabaret. Mit einer gewissen Notwendigkeit ist die Ausruferin keine andere als die Staatsanwältin. Politiker und Schauspieler sind nahe Verwandte. In diesem Cabaret aber schließt sich der Kreis der wahnsinnigen Geschichte oder der Wahnsinn erfährt seine Auflösung, je nachdem wie man es interpretieren möchte. Nikolaus Webern schafft mit dem Licht von Boris Kahnert zu all dem eine Art Einheitsbühnenbild. „Eine Art“, weil es, ausgehend vom hohen Holzgewölbe des Gerichtssaals mit wenigen sich herabsenkenden oder von Marina Rosenstein und Julius Westheide als Mimen platzierten Requisiten alles ist: das Haus des Maestro Salvatore, das Gefängnis, das Cabarett, die Projektionsfläche für Erinnerungen. Das Zusammenspiel von Sokolova und Webern muss so besonders gewesen sein wie das von Ronnefeld und Bletschacher. Die Bühne wird zu den Seiten auf den letzten Millimeter genutzt, hat einige Lärm- und Stolperfallen zu vermuten und kraxelige Treppen und doch läuft der ganze „Film“, ohne auch nur einen Moment diese unglaubliche Musik zu beeinträchtigen. 

Hätte Ronnefeld länger leben dürfen, würde die Musikgeschichte heute anders aussehen. Er soll in jeder Hinsicht etwas von Mozart an sich gehabt haben, durfte auf dieser Welt aber nur für noch kürzere Zeit verweilen. Was ist das nun? Realität oder Fiktion oder ein neues Experiment des unbeweglichen Bewegers? Diese Oper lehrt vor allem zwei Dinge: Alles, was ist kann auch anders sein. Und: Es ist durchaus denkbar, dass Genies wiederkehren. Versüßen Sie sich die Wartezeit mit einem Besuch dieser Produktion in der Oper Bonn.
 

«Die Ameise» – Peter Ronnefeld
Theater Bonn · Opernhaus

Kritiken der Premiere am 14. Dezember 2025 
Termine: 27. Dezember 2025; 10./15./18. Januar; 1./6. Februar 2026