Wiener Staatsoper

Dicht bespielte Haftentlassung

Eine große Aufgabe: Nikolaus Habjan führte «Fidelio» aus einer 55-jährigen „Haftstrafe“, Franz Welser-Möst gibt dieser Partitur gleichsam einen Defibrillatorschock

Paul Barrera-Strittmatter • 21. Dezember 2025

Habjans Puppen doubeln Florestan (David Butt Philip) und Leonore (Malin Byström) © Werner Kmetitsch

«Fidelio» ist nicht nur eine Wiener Oper, sondern ein Werk, das auf das trefflichste den Einfluss von Geschichte und Politik auf die Musik formuliert. Diese Komposition des jungen, leidenschaftlichen Beethoven feierte am 20. November den 220. Jahrestag ihrer ersten Aufführung. Und das immer wieder aufs Neue zu Begreifende ist, dass dieses Werk keineswegs in einem konfortablen-bürgerlichen, gleichsam sanft gepolsterten Umfeld entstanden ist, wie man es aus dem ansonsten recht dekorativen Repertoire der Wiener Staatsoper kennt. Nein: Als Beethoven die Arbeit an diesem Werk vollendete, zogen französische Soldaten durch Wien, der Komponist hörte das Zischen der Kanonenkugeln der Schlacht bei Schöngrabern, und Wien befand sich in den Händen jenes Mannes, in dem Beethoven einst die Verkörperung des revolutionären Geistes und der Menschenrechte zu erkennen glaubte, und der sich dennoch selbst zum Kaiser erhob.

Dieses Werk Beethovens markiert das Aufkommen einer musikalischen Gattung, die der Befreiungsoper, die im revolutionären Frankreich bereits schon mehrere Erfolge hatte feiern können. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Befreiung von Florestan, eines politischen Gegners des Despoten Pizzaro, darüber hinaus aber auch die Entfesselung einer revolutionären Energie, die auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit zielt, ganz im Geiste des Librettos von Jean-Nicolas Bouilly aus der Zeit des jakobinischen Frankreichs.

Doch «Fidelio» wurde der Bezeichnung Befreiungsoper – in einem übertragenen Sinne – kaum gerechter als an diesem Tag, hier in Wien, an der Wiener Staatsoper. Die von Nikolaus Habjan inszenierte Neuproduktion hat am vergangenen Dienstag dieses Werk aus einer 55-jährigen und 253 Aufführungen währenden Sichtweise entlassen – eine überaus lange „Haftstrafe“ für ein Werk, dessen Grundprinzip die Befreiung ist.

Gelingt es der Wiener Staatsoper, sich mit dieser neuen Produktion auf moderne Inszenierungskunst einzulassen und die Vorwürfe des Konservatismus und der künstlerischen Konformität, die man ihr gelegentlich entgegenhält, zum Verstummen zu bringen? Ist diese Neuproduktion tatsächlich neu, den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen und einem politischen Werk wie Fidelio angemessen? Dies lässt sich ermessen, wenn man diesen Abend mit aufmerksamem Blick und Ohr erlebt – einen Abend, der am vergangenen Dienstag mit mehr als zehn Minuten anhaltenden, enthusiastischen Beifall endete.

Die Bühne des neuen «Fidelio» ist dicht bespielt, und kaum ein Moment verführt, sich der Langeweile hinzugeben oder den Faden zu verlieren. In einem zügigen, beinahe filmischen Rhythmus verwandelt sich das Bühnenbild von Julius Theodor Semmelmann im ersten Akt gleich dreimal und eröffnet jeweils neue Räume. Kaum nach dem Öffnen des Vorhangs erblickt man in einer Art Nische die Vorhalle eines Gefängnisses, die mit eindringlichem Realismus an den Besucherraum eines Gefängnisses mit Plexiglasscheibe erinnert. Vor dieser weist Marzelline, die Tochter des Gefängniswärters Rocco, die Annäherungsversuche Jaquinos zurück, während sie mit dem Zusammenlegen der Häftlingskleidung beschäftigt ist. Wenig später erscheint Leonore zum ersten Mal, begleitet von einer etwa zwei Meter hohen Puppe, die als Double von Leonore und zugleich als Fidelio-Figur fungiert – hinter dieser letzteren verbirgt sich nämlich die tapfere Leonore, um die Befreiung ihres Gatten vorzubereiten.

Tareq Nazmi und Christopher Maltman bei einer Unterredung von Rocco und Don Pizarro vor Aktenordnern © Werner Kmetitsch

Die zweite szenische Verwandlung enthüllt das Arbeitszimmer des grausamen Gouverneurs Don Pizarro. Dieses Kabinett, dessen drei Wände von eintönigen Aktenordner-Regalen bedeckt sind und den autoritären Geist Pizarros widerspiegeln, teilt sich plötzlich in zwei Hälften: Der Wärter Rocco, von Pizarro zur Mitwirkung an einem Mordplan gegen den Gefangenen Florestan aufgefordert, wird abrupt von seinem Vorgesetzten räumlich entfernt, obwohl sie eben noch Schulter an Schulter standen. Dieses sinnfällige, gleichsam vorgreifende Bild der Trennung Roccos nach dem unmenschlichen Befehl des ungerechten Pizarro öffnet den Blick auf das vielleicht eindringlichste und bewegendste Bild des Abends: das Gefängnis selbst. Als eine Art hohe, nach hinten Gefängniszellen einschließende Gitterwand konzipiert, frontal dem Publikum zugewandt, entfaltet es seine ganze Wirkung, als die Herren des Chores in diesen Zellen Platz nehmen, um „O welche Lust, in freier Luft“ anzustimmen.

Doch das Bühnenbild des zweiten Aktes bestätigt den Eindruck, der sich bereits im ersten zu entwickeln begann. Man gerät entweder in den Bereich des monumental-opernhaften – etwa in der letzten Szene der Oper, wenn sich das Gefängnis öffnet und den Blick auf eine Riesenstatue Leonores als Freiheitsfigur freigibt – oder aber stellenweise ins Kitschige, mit stark romantisierenden Gegensätzen wie jenem zwischen der metallisch-dunklen Atmosphäre des Kerkers und dem himmelblauen Licht einer am Ende vollzogenen Gerechtigkeit.

Tatsächlich zielt die Inszenierung auf Monumentalität, wohl um der Ausdruckskraft der beethovenschen Musik gerecht zu werden, verfehlt aber gerade eben dieses Ziel durch ein Übermaß an Figuralismus. Die beiden großen Puppen, die Leonore und Florestan bis zum Schluss begleiten, sind symptomatisch für jenen Drang, alles zeigen und erzählen zu wollen, fast so, als handelte es sich um ein Puppentheater. Doch gerade hier funktioniert dieser Ansatz nicht, denn Fidelio verlangt nach Intimität, nach dem Verborgenen einer verfemten Liebe im Innersten eines Kerkers. Warum also zwei riesige Puppen, die die mögliche Wirkung eines Liebesduetts wie „O namen-, namenlose Freude“ behindern, eines Moments, der doch von so großer Menschlichkeit durchdrungen ist? Beethoven wollte zeigen, wie zwei Menschen unter der Erfahrung von Ungerechtigkeit und Gewalt im Liebesband zueinander finden können. Es handelt sich um ein zutiefst menschliches Werk, und Puppen auf die Bühne zu bringen – noch dazu mit überzeichnet pathetischen, stark theatralisierten Gesichtern – verfehlt in einem Werk, das keiner solchen figurativen Distanzierung bedarf, seine Wirkung. Es mag wohl kaum genügen, diese Befreiungsoper kraft zweier Puppen von dem Staub zu befreien, der sie seit mehr als fünfzig Jahren bedeckt.

Gerade in dieser Wahl der Doubles, dem Markenzeichen Nikolaus Habjans, entpuppt sich eine inszenatorische Vortäuschung, die der von der Wiener Staatsoper praktizierten Kunstpolitik einer nur vermeintlichen Erneuerung genügen soll. Wenn diese beiden Puppen tatsächlich als Mittel der Depersonalisierung, als eine Art quasi Brecht‘sche Verfremdung in einem Werk gedacht sind, das man auffrischen möchte, warum dann Puppengesichter, die derart mitleiderregend wirken, und eine Szenografie von so pathetischer, ja schwülstiger Atmosphäre? Will man das Spiel der Distanzierung und der Verfremdung betreiben, was mit diesen beiden Puppen zweifellos intendiert ist, so hätte man es konsequent bis zu Ende führen müssen, um tatsächlich etwas Neues zu schaffen.

Aus musikalischer Sicht gibt Franz Welser-Möst dieser Partitur gleichsam einen Defibrillatorschock, und der Graben spielt «Fidelio» mit einer Leidenschaft, als würde er die «Missa solemnis» darbieten, mit Akzenten, die stellenweise vielleicht etwas zu stark betont wirken, und Nuancen, die man sich etwas ausgearbeiteter gewünscht hätte. So ist nicht vergessen, dass nicht nur die Fortes die Größe Beethovens ausmachen, sondern eben auch die Diminuendi, Crescendi oder Pianissimi, wie zum Beispiel jene in den wunderschönen und fast geflüsterten „Leise”-Passagen des Chors wenn er „O welche Lust, in freier Luft” singt. Der Chor der Wiener Staatsoper und die Solisten überzeugen insgesamt sehr, doch wäre eine weniger frontale Aufstellung zum Publikum hin möglicherweise vorteilhaft gewesen, um stellenweise einen allzu trockenen Klang und eine zu hohe Lautstärke zu vermeiden, mithin natürlich in den ruhigeren Passagen. In der Rolle der Leonore beeindruckt Malin Byström sowohl mit einer Stimme, deren Sensibilität und dramatischer Reichtum dieser anspruchsvollen musikalischen Partie gerecht werden, als auch mit ihrem Spiel, das für eine Hauptdarstellerin, das denkbar Bewegendste ist eingedenk ihrer Einschänkungen, ständig an eine Puppe gebunden zu sein.

Die Freiheit ist sexy: Leonore weist als monumentale Statue den Weg ans Licht © Werner Kmetitsch

Kathrin Zukowski als Marzelline, Tareq Nazmi als Rocco und Daniel Jenz als Jaquino liefern sämtlich sehr überzeugende musikalische Leistungen und gestalten gemeinsam mit Malin Byström ein Quartett „Mir ist so wunderbar“ von großer Feinheit und berührender vokaler Subtilität. David Butt Philip zeichnet sich seinerseits als Florestan aus und meistert die musikalische wie dramatische Entwicklung seiner Figur mit Souveränität – von der physischen und psychischen Erschöpfung des „Gott! Welch Dunkel hier!“ bis zum glanzvollen Aufleuchten des Duetts „O namen-, namenlose Freude“. Und was den bösen Gouverneur Don Pizarro betrifft: Er wird von der kraftvollen, majestätischen Bassstimme Christopher Maltmans verkörpert, der mit „Ha! Welch ein Augenblick“ den gesamten Zuschauerraum erzittern lässt. In der Rolle des Don Fernando schließlich wirkt Simonas Strazdas bei seinem Auftritt trotz der Würde der Figur zunächst etwas zögerlich.

Man darf nicht ungerecht oder allzu hart urteilen: Die Arbeit von Nikolaus Habjan mit seinem Team ist beeindruckend und von Anfang bis Ende akribisch durchgestaltet, und man kommt nicht umhin, dem betriebenen Aufwand wie auch der Gesamtleistung Anerkennung zu zollen. Gleichwohl stellt eine Neuinszenierung nach fünfzig Jahren Repertoire, noch dazu eines so politischen und revolutionären Werkes wie «Fidelio», den Regisseur vor eine künstlerische Verantwortung, der er sich nicht entziehen darf, wie man es mit einer flachen, lauwarmen Inszenierung täte oder mit einer, die so wenig stört wie ein „Weibermärchen am Kamin“. (Lady Macbeth an Macbeth, 3. Akt, 4. Szene)

Selbst Otto Schenk, der im selben Jahr von der Lebensbühne abtrat wie seine historische «Fidelio»-Inszenierung aus dem Jahr 1970, räumte ein: „Wenn man verkarstet ist und nicht mehr von der Leidenschaft, dem Fanatischen, dem Üblen in den jeweiligen großen Werken ergriffen wird, dann muss man sich zurückziehen.” (Link zum Interview) Diese Aufforderung muss man beherzigen, wenn man eine Neuproduktion von «Fidelio» inszenieren darf. Habjans «Fidelio»-Produktion hätte dem noch mehr nachspüren dürfen.


«Fidelio» – Ludwig van Beethoven
Wiener Staatsope
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Kritik der Premiere am 16. Dezember
Termine: 22./27./30. Dezember
 

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