Tiroler Festspiele Erl
Totale Opern-Psychose
Die Donizetti-Premiere im Festspielhaus überwältigt mit kräftigen Stimmen und grellen Effekten
Roland H. Dippel • 28. Dezember 2025
„Weltklasse!“ jubeln regionale Besucher nach der ersten ausverkauften Winterpremiere, „splendid“ und „silly“ raunten internationale Gäste in der Pause. Bei den Tiroler Festspielen Erl im fast schneefreien, mit Frost überzuckerten Inntal kann bei «Lucia di Lammermoor» wenig schiefgehen, auch für die konzertante Serie von «La sonnambula» mit Jessica Pratt und Levy Sekgapane stehen die Zeichen auf Erfolg. Mit seiner Vertonung von Walter Scotts Bestsellerroman „Die Braut von Lammermoor“ wollte Gaetano Donizetti sich gegen Bellinis «I Puritani» behaupten. Bei den ersten Erler Winterspielen unter der Intendanz von Jonas Kaufmann manifestierte sich vor genau einem Jahr durch Jessica Pratts und Lisette Oropesas Einspringen in dieser Oper erstmals mit überwältigender Resonanz, worauf es dem optimal vernetzten Tenor-Star ankommt: Klassik-Sensationen für die Region, Connaisseure und die Welt an einem traumhaft schönen Ort.
Unter dem für den eine Schulterverletzung auskurierenden Chefdirigenten Asher Fisch eingesprungenen Sesto Quatrini klingt das teils noch im früheren, also etwas filigraneren 19. Jahrhundert stehende „dramma tragico“ kompakt bis robust. Die Blechbläser schallten bei der Premiere wie die Posaunen von Jericho. Dichte bis dicke Streicherteppiche steigern Donizettis dramatisch pointierte Grazie. Die Stimmen sind äußerst konditionsstark und dem kompakten Zugriff voll gewachsen. Hier vergisst man schnell, dass das als Tribut an die schwarze Romantik gedachte und in Schottland spielende Operndrama für das Teatro San Carlo in Neapel 1835 auch nebelhaftes Kolorit, vor allem aber suggestiv schmiegsame Klanggebärden enthält.
Mit breiten Pinselstrichen durch Regie und Dirigat kommt der in Romanen wie Flauberts „Madame Bovary“, Tostois „Anna Karenina“ und Fosters „Engel und Narren“ nachwirkende Belcanto-Blockbuster «Lucia di Lammermoor» bestens an. Erst bringt Miss Lucia in der Hochzeitsnacht den bei Scott von der Familie, bei Donizetti nur vom Bruder Enrico vorbestimmten Bräutigam um. Wenn sie danach in die tödlich endende Psychose und die heute berühmteste Wahnsinnsarie des 19. Jahrhunderts abtaucht, folgen auf den inszenierten Applaus für die Figur durch den Chor die echten Applausfontänen im Zuschauerraum. Lucia – das Wrack, das Opfer, die Täterin – träumt in Erl vom glamourösen Opernauftritt und räumt ab. Es bleibt in der Inszenierung der in Amerika und Deutschland erfolgreichen Louisa Proske ungewiss, ob Lucias spastischer Autismus in realen Familienstrukturen oder im Konsum zu vieler „Highlander“-Serien wurzelt.
Quatrinis dirigentische Haltung und der von Olga Yanum bestens vorbereitete Chor bestätigen die gesamte Haltung und zwei beim Publikum bestens ankommende Tendenzen. Neben der für Verdis mittlere Schaffensperiode bis 1860 ebenso zuträglichen Frontalpower folgt auch Louisa Proske einem Trend. Junge Regisseurinnen und vor kurzem Elena Maria Artisi am Theater Gera und jetzt Proske setzen für das Lucia-Psychogramm wie die alten Regie-Oligarchen geradlinige Geschlechtszuweisungen: Männer quälen, aber die Frau im Zentrum leidet, träumt, mordet. In dieser Polarisierung machen altbewährte Striche aus der Zeit vor Bemühung um die musikalische Originalgestalt neuen Sinn: Der Zwischenteil der Wahnsinnsarie mit Lucias Schuld- und Reuebekenntnis am von ihr gemeuchelten Bräutigam Lord Arturo Bucklaw wurde gestrichen. Francesco Domenico Doto singt die Rettungsfinanzspritze Arturo für Lucias Bruder Enrico beeindruckend stilaffin – im weißen Anzug unter weißem Yankee-Hut. Im Kilt darf sich der Tenor Kang Wang als Edgardo di Ravenswood schon beim ersten Auftritt gegen seine heimliche, mit Zuckerbrot und Peitsche gemaßregelte Geliebte Lucia positionieren. Wang nimmt den von Donizettis Zeitgenossen als Melancholiker Byron‘scher Prägung verstandenen Edgardo di Ravenswood für eine eindrucksvolle Etüde zu den heldischen Verdi-Partien. Die Piano-Reprise der Selbstmord-Strophe kommt dann mit schmelzendem Piano.
Proske erweiterte auf der ziemlich großen Festspielhaus-Bühne die Studioaufführung ihres Ensembles Heartbeat Opera 2016. Darko Petrovic setzte deutliche Rauminseln für Lucias Double, das von ihr besungene Mord- und Liebesopfer aus grauer Vorzeit („Ravenswood Girl“: Sonja Golubkowa) sowie die horrible Psychiatrie-Zelle mit Fesseln und eisern zugreifender Pflege-Soldateska. Der doch recht US-amerikanisch ausstaffierte Deko-Rahmen vor den Rängen eines Opernhauses wirkt durch abwechslungsreiche Netflix-Ästhetik. Im realismusfernen Bühnenbild zieht Kaye Voyce mit prägnanten Kostümen alle realistischen Register. Suchtrupps (Fight Coordinator: Ran Arthur Braun) pirschen durchs Bühnentürkis (Licht: Jiyoun Chang). Frauen tragen zur Hochzeit Galaroben in Schmetterlingfarben und Flügelschnitten wie zur Oscar-Verleihung.
Am Schluss mutiert beim Leichenzug für Lucia der ganze Chor zu Klinik-Personal. Stunden früher rammte eine Krankenschwester die Betäubungsspritze in Lucias Arm und holt dazu aus wie ein Wagner-Recke mit dem Schwert. Solche Akzente wirken nicht billig, weil taffe Härte und kraftvolles Soundset wie aus einem Guss entwickelt sind. Mit Überraschungen: Adolfo Corrado betet, entsetzt sich und macht als Priester Raimondo fiesen Druck unter sanften Gesten. In der hier zum Leisetreter gedimmten Partie kommt Corrado mit edlen Linien ans Belcanto-Ziel. Stimmschön und leuchtkräftig zeigt Verena Kronbichler ideale Präsenz als sonst oft unterbelichtete Alisa. Lodovico Filippo Ravizza akzentuiert beim Partiendebüt als Lucias Brutalo-Bruder Enrico notgedrungen die martialischen Akzente, schmettert in „Cruda, funesta, smania“ bravourös los. Auf eine mehr opernhafte als krimigemäße Revolver-Fummelei folgt donnernder Applaus.
Die katalanische und unter anderem in «Mitridate» bei den Salzburger Festspielen erfolgreiche Sopranistin Sara Blanch ist eine ideale Lucia für Genderpluralismus heute. Es fragt sich, wie eine Frau mit dieser physischen und sinnlichen Kraft überhaupt zum Opfer werden kann. Blanch setzt ausdrucksstarke Marken gegen den falschen Silberstimmen-Mythos. Sie entwickelt die sängerische Skala von der glutvollen Tiefe in strahlende Höhen und sich immer faszinierender öffnenden Extremhöhen. Eindrucksvoll ist bereits die von ihr komplett gesungene Koloraturenkette nach der ersten Arie, vor der sich viele Kolleginnen drücken. Das Duett mit der Glasharmonika wird in der Wahnsinnsszene zum bravourös gesetzten Zeitlupen-Drama. Blanchs Zugriff appelliert zeitgemäß und plausibel gegen vormoderne Zerbrechlichkeit. Schon das legitimiert die langen Beifallsstürme nach jedem ihrer Auftritte. In Erl passt demzufolge alles: Es jubelt das Publikum, das Marketing jauchzt über das vollbesetzte Festspielhaus, alle freuen sich. Ein Winteropernmärchen mit klaren Ansagen über Böse und Gut.
«Lucia di Lammermoor» – Gaetano Donizetti
Tiroler Festspiele Erl · Festspielhaus
Kritik der Premiere am 27. Dezember 2025
Termine: 2./4. Januar 2026