Opéra national de Lorraine
Ein feministischer Traum
In Frankreichs kleinster Nationaloper macht eine junge Künstlergeneration auf sich aufmerksam: Musikalisch auf einem Weltklasse-Niveau und szenisch ebenso frech wie politisch interpretieren sie Paul Dukas‘ einzige Oper «Ariane et Barbe-Bleue»
Stephan Burianek • 30. Januar 2022
Die ersten Takte klingen, als wären sie für einen Hollywood-Thriller komponiert worden. Nervös blitzen die Streicher durch eine unstete Bläsermelodie, flotte Paukenschläge scheinen ein pochendes Herz zu imitieren – irgendetwas liegt hier im Argen. Es folgt eine soghafte, farbenreiche Symphonie mit Gesang von etwas mehr als zwei Stunden, und man fragt sich, weshalb dieses Werk selbst in der französischen Heimat so selten zu hören ist. Immerhin sind von Paul Dukas praktisch nur Meisterwerke erhalten, seine symphonische Dichtung „Der Zauberlehrling“ nach der Goethe’schen Ballade ist allseits bekannt, und die vermeintlich weniger guten Kompositionen hat der selbstkritische Meister ohnehin allesamt verbrannt.
Ein Grund für die stiefmütterliche Behandlung von «Ariane et Barbe-Bleue» könnte in der Tatsache liegen, dass nur wenige Sängerinnen der Titelpartie ausreichend gewachsen sein dürften, immerhin erfordert sie sowohl eine immense Stimmkraft und -kondition bei gleichzeitiger Fähigkeit zu wendigen Kantilenen. Ein anderer Grund ist vielleicht im Fazit des Werks zu suchen: Die vom Triebtäter Blaubart grausam eingesperrten Frauen ziehen es nach einer kurzen Bereitschaft zum Widerstand letztlich doch vor, weiterhin unter ihrem Tyrannen zu leben, Arianes Engagement bleibt folgenlos. Das passt heute freilich so gar nicht in unser gesellschaftspolitisches Selbstverständnis, wiewohl die regelmäßige Berichterstattung über Femizide darauf hindeutet, dass die Problematik bis heute von erschreckender Aktualität ist.
Beide Herausforderungen meistert die Lothringer Nationaloper in Nancy, die Opéra national de Lorraine, in ihrer aktuellen Aufführungsserie eindrucksvoll. Zum einen hat ihr junger Intendant Matthieu Dussouillez mit Catherine Hunold eine Sängerin von Weltformat verpflichtet, zum anderen thematisiert der deutsch-französische Regisseur Mikaël Serre den Kampf der Frauen um Selbstermächtigung und deutet das Finale von Maurice Maeterlincks Libretto glaubhaft um.
Aber der Reihe nach: Für den beschriebenen Beginn wählte der Dirigent Jean-Marie Zeitouni am Premierenabend ein flottes Tempo, und kurzzeitig saß man tatsächlich im Kino: Das Publikum folgt einem weißen Tesla aus der Vogelperspektive, die Straße führt durch einen dichten Wald (Video: Sébastien Dupouey). Im Wagen sitzen Ariane und ihre Freundin (bei Maeterlinck/Dukas ist es ihre Amme). Die warnenden Bauern am Straßenrand sind bei Serre grotesk maskiert und kostümiert. Einer erinnert an jene verwirrte Person, die es im Zuge des Sturms der Republikaner auf das US-Kapitol im vergangenen Jahr Jahr mit Hörnern am Kopf auf die Titelseiten dieser Welt geschafft hat – manchmal, so wirkt es, kämpft der Pöbel auf der richtigen Seite. Jedenfalls radikalisieren sich Menschen allzu häufig auf Basis von nicht gesicherten Informationen: Der Mob weiß nicht, dass Blaubarts Ex-Frauen noch leben. Der alte Lüstling hat sie im Maeterlinck’schen Libretto nicht umgebracht, sondern „nur“ in ein Verlies gesperrt.
Serre deutet das Werk als Parabel für die Situation der Frauen in unserer Gesellschaft. Wenn Arianes Amme die erlaubten Türen mittels TV-Fernbedienung öffnet, dann sind nicht Amethysten, Saphire oder Smaragde zu sehen, sondern eine Live-Choreografie, vollzogen vor einem Greenscreen und gemeinsam mit Videoanimationen auf Leinwände über dem Geschehen projiziert (ähnlich wie bei Inszenierungen von Kobie van Rensburg). Sie stellt Kämpferinnen im Laufe der Geschichte dar, darunter eine Amazone, die mit der Venus von Willendorf ein Fruchtbarkeitssymbol verspeist und natürlich Jeanne d’Arc.
Es gibt viel zu sehen bei Serre, und man hat mitunter Mühe, allen Vorgängen zu folgen, was unweigerlich von der Musik ablenkt. Das ist einerseits schade, denn Jean-Marie Zeitouni sorgt mit dem Orchester der Lothringer Nationaloper für eine mustergültige, die gewünschte soghafte Intensität erzeugende Wiedergabe dieser spätromantischen Partitur, wobei ihm das Kunststück gelingt, den Sänger:innen in der Lautstärke maximal entgegenzukommen ohne dabei klangliche Abstriche machen zu müssen. In Nancy stellt sich die Musik, ähnlich wie im Film, in den Dienst der Szene. Andererseits verfehlt sie die Wirkung dadurch nicht, zumal man ausnahmslos allen Solistinnen wie gebannt zuhört.
Von Catherine Hunold war oben bereits die Rede. Sie hat in diesem Werk gefühlt neunzig Prozent des Textes zu singen und in mehreren Monologen die spätromantischen Klangwogen aus dem Orchestergraben zu übertönen. Das gelingt ihr von Beginn an scheinbar mühelos, und ihre warm timbrierte Stimme besitzt genug Samt und Technik, um in den ariosen Passagen angenehm lyrisch zu klingen. Schade war nur, dass sie von der Kostümbildnerin Nina Wetzel zu einer Art Discokugel verunstaltet wurde.
Übrigens: Die Dominanz der Titelpartie hat einen ganz profanen Hintergrund. Das Libretto wurde von Maurice Maeterlinck für seine Ehefrau, die Sängerin Georgette Leblanc, geschrieben – als Ausgleich dafür, dass sie bei der Uraufführung von Debussys «Pelleas und Melisande» skandalöser Weise nicht besetzt worden war. Mehr über die spannende Entstehungsgeschichte steht im Artikel „Die gescheiterte Lichtbringerin“, den der Dramaturg Zsolt Horpácsy im Rahmen einer Aufführungsserie im Jahr 2008 an der Oper Frankfurt geschrieben hat und der hier in der OPE[R]NTHEK zu finden ist.
In Nancy waren alle Partien makellos besetzt. Vincent Le Texier hatte als neureicher Blaubart – grelle, neobarocke Muster auf schwarzem Mantel und mit Golfschläger – nur wenige Zeilen zu singen, aber in denen war er wunderbar präsent. Stimmkräftig und sicher präsentierte sich mit der Mezzosopranistin Anaїk Morel auch ein einstiges Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper als Arianes Amme bzw. deren Freundin. Die jungen Sängerinnen Clara Guillon, Samantha Louis-Jean, und Tamara Bounazou als Gefangene könnten zweifellos auch in größeren Partien bestehen. Hervorzuhaben ist Héloїse Mas, die mit ihrem breiten, kräftigen Mezzosopran als ebenfalls eingesperrte Selysette eine Luxusbesetzung war.
Als Blaubarts Ex-Frauen können die vier Letztgenannten in dieser Inszenierung auch darstellerisch glänzen. Zunächst gesichtslos, schlüpfen sie nach Arianes Erweckung in starke, ikonische Frauen der Gegenwart. Wir sehen beispielsweise Greta Thunberg und die US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez in jenem weißen Kleid mit rotem „Tax the rich“-Schriftzug auf der Rückseite, das die Demokratin im vergangenen Jahr bei der Met-Gala in New York getragen hat. Auch der Uma-Thurman-Charakter aus dem Tarantino-Film „Kill Bill“ hüpft im gelben Ganzköperanzug herum. Man muss nicht alle Figuren decodieren, um zu erkennen, worauf Serre in seiner Inszenierung, die sich nicht gegen die Musik stellt, hinaus möchte: Die männliche Vorherrschaft ist zu Ende. „Eine Revolution wird nicht in einem Tag gemacht“, schreibt eine der Serre’schen Amazonen auf ein Transparent – manchmal dauert sie eben Jahrhunderte. Serre verkehrt das aus feministischer Sicht eher deprimierende Fazit von Dukas‘ Oper – die Frauen vergeben ihrem Peiniger und hoffen, wenig realistisch, auf dessen Besserung – in ein hoffnungsvolleres: Vom Mob malträtiert und von den Frauen gedemütigt, sitzt Blaubart am Ende auf seiner Ledergarnitur und liest, unter vorgehaltenem Messer, aus einem feministischen Buch. Am Ende zieht sogar Arianes Freundin in das Haus, die neue Ordnung hat gesiegt – zumindest als Utopie auf der Opernbühne.
«Ariane et Barbe-Bleue» – Paul Dukas
Opéra national de Lorraine
Kritik der Premiere am 28. Januar 2022
Termine: 30. Januar, 1./3. Februar 2022