Staatsoper Unter den Linden

Wotan forscht

Mit einem bejubelten «Rheingold» startet in Berlin der neue Tcherniakov-«Ring», der in einem Forschungsinstitut spielt. Christian Thielemann dirigiert gewohnt einmalig

Joachim Lange • 03. Oktober 2022

Tcherniakovs Bühnenbild macht mit seinen hoch und zur Seite fahrenden Räumen ziemlichen Eindruck © Monika Rittershaus

Spektakulärer kann man die Spielzeit an einem Berliner Opernhaus kaum eröffnen: Um den offiziellen gesamtdeutschen Nationalfeiertag am 3. Oktober herum bringt die Staatsoper Unter den Linden einen kompletten «Nibelungenring» neu auf die Bühne. So verabschiedet man sich als Intendant, wenn man von Berlin nach Zürich wechselt. So begeht man eigentlich als GMD und jahrzehntelanger, wirklicher Steuermann des Hauses im musikalischen Maschinenraum, sprich Graben, mit verschiedenen Intendanten auf der Kommandobrücke, und als Dirigent auf Lebenszeit seinen Achtzigsten. Jedenfalls plant man es so, und niemand würde einem Dirigenten wie Daniel Barenboim bei einer solchen Planung in den Arm fallen. Außer seine eigene Gesundheit. Nun muss man keine besonderen seherischen Fähigkeiten haben, was den Kreis der möglichen Nachfolger betrifft, denn Barenboim wird es nicht Sinopoli oder Soltesz nachmachen wollen. Er bliebe auch mit reduzierter Kraft ohne Chefposten eine Bereicherung für die Musikwelt. Aber wie dem auch sei und wie immer man zum Zeitgenossen Christian Thielemann stehen mag – als möglicher Chef der Staatskapelle Berlin wäre er nicht nur wegen seines von manch einem immer wieder bekrittelten Berliner Mundwerks schon eine erste Wahl.

Beim «Rheingold» und dem gesamten ersten «Ring»-Zyklus ist er jetzt jedenfalls wie selbstverständlich für Barenboim eingesprungen und sorgte für einen atemberaubenden Orchesterpart. Thielemann brachte es fertig, großformatige Kammermusik zu zelebrieren, den Protagonisten gleichsam musikalisch begleitetes Worttheater zu ermöglichen, was sie alle nahezu durchweg exzellent beherrschten. Vor allem aber hielt er Lärmiges, äußerlich Auftrumpfendes von den Musikern im Graben und den Akteuren auf der Bühne fern. Der mit Wagner und dem Bayreuther Graben bestens Vertraute dirigierte die Staatskapelle gleichsam unter einem imaginierten Bayreuther Deckel – so ausgewogen und sängerfreundlich hört man Wagner wahrlich nicht oft. Wobei man besser sagen müsste: so zuhörerfreundlich. Den Sängern verlangte seine zelebrierend, jede Silbe auskostende Lesart einiges ab. Der Abend dauerte denn auch mit zwei Stunden 45 Minuten eine Viertelstunde länger, als im Programmheft angekündigt.

Sitzung im Forschungsinstitut: Peter Rose (Fafner), Mika Kares (Fasolt), Lauri Vasar (Donner), Rolando Villazón (Loge), Siyabonga Maqungo (Froh), Claudia Mahnke (Fricka), Michael Volle (Wotan) © Monika Rittershaus

Aber für so erstklassige Sängerdarsteller wie Michael Volle als souveräner Chefgott Wotan oder Johannes Martin Kränzle als sein nicht minder exzellenter Gegenspieler Alberich war das kein Problem, sondern eine Steilvorlage, um ihr gestalterisches Können vorzuführen. Auch Rolando Villazón spielte als Loge natürlich sein schauspielerisches Talent mit Hingabe aus und hielt der Rolle auch vokal erstaunlich gut stand. Über die paar hörbaren Buhs für ihn war sein Kollege Volle beim Schlussapplaus sichtbar verärgerter, als der Empfänger selbst. Zum Auftakt lieferten Evelin Novak (Woglinde), Natalia Skrycka (Wellgunde) und Anna Lapkovskaja (Flosshilde) drei mustergültig artikulierende Rheintöchter. Mika Kares und Peter Rose sind vorbildliche Bauherren, auch wenn der eine den anderen ohne viel zu zögern erschießt. Stephan Rügamer überzeugt als gebeutelter Mime. Bei den Göttern ragt neben Lauri Vasar (Donner) und Siyabonga Maqungo (Froh) vor allem Claudia Mahnke als präsente Fricka und Vida Miknevičiūtė als durchschlagskräftig leuchtende Freia heraus. Dass Anna Kissjudit ihren kurzen Erda-Auftritt nutzt, um erdige Töne zu verströmen, versteht sich von selbst. Musikalisch ist dieser Auftakt alles in allem atemberaubend und vokal ein Genuss.

Dmitri Tcherniakov gehört zu den Regisseuren, die der Lindenoper schon etliche szenische Hingucker beschert haben. Auch mit Wagners «Tristan und Isolde» und  «Parsifal». Ihm den Ring zu übertragen lag gleichsam auf der Hand. Im «Rheingold» präsentiert er das Ringpersonal nicht als Familienclan (wie gerade in Bayreuth versucht), sondern als Forschungsinstitut, bei dem es zunächst offensichtlich um die Erforschung menschlicher Verhaltensweisen geht. Was anderes aber, als die Erschaffung des ominösen neuen Menschen sollte dabei rauskommen?

Michael Volle als Wotan im lichten Atrium des Instituts E.S.C.H.E. © Monika Rittershaus

Das Institut, mit dem Tcherniakov, wie immer als sein eigener Bühnenbildner, die Bühne der Staatsoper füllt, macht mit seinen mühelos hoch und zur Seite fahrenden Räumen ziemlichen Eindruck. In einem lichten Atrium steht (passend zum Institutsnamen E.S.C.H.E.) ein Baum im Zentrum. Der Konferenzraum ist mit marmorierten Wänden nobel ausgestattet. Es gibt eine Raucherecke vor dem Fahrstuhl. Die Kostüme von Elena Zaytseva charakterisieren die 1970er-Jahre, da durfte man’s noch. Mit dem Fahrstuhl geht es in die beiden Untergeschosse des Institutes – im ersten finden sich unzählige Käfige mit lebenden Versuchstieren, im zweiten sitzen Menschen an nicht sehr einladenden Arbeitsplätzen und werkeln vor sich hin.

Das eigentliche Versuchskaninchen ist aber Alberich. Der wird gleich zu Beginn im Stresslabor mit VR-Brille von den drei Rheintöchtern so lange gereizt, bis er sich befreit, randaliert und in den Keller verschwindet. Dort glaubt er nur selbst an die Macht des Rings, daran, sich zu verwandeln und an die Produktion von Gold. So ist es für den Institutschef und seinen Assistenten Loge ein Leichtes, ihn mit Hilfe von zwei Pflegern wieder einzufangen….  Am Ende wird das neue Institut, dessen Baupläne den Zwischenvorhang zieren, mit einer kleinen Feier für die Belegschaft eingeweiht, bei der Donner und Froh mit ein paar Taschenspielertricks aufwarten, Wotan eine Ansprache hält und Loge am Ende allen die Stimmung verdirbt. Wenn es dann mit dem ganzen Atrium abwärts geht, verweist das wohl darauf, dass sich Wotan nicht mehr sicher ist, was aus seinem Unternehmen werden soll. Wenn dieser schöne Raum dann aber nur mit einem nachdenklichen Wotan zu den letzten Klängen der Musik wieder nach oben fährt, wissen wir, dass wir noch lange nicht am Ende sind, sondern dass es jetzt erst richtig losgeht.
 


Dieser Artikel wurde möglich gemacht durch den Richard Wagner-Verband Wien, realisiert in redaktioneller Unabhängigkeit



«Rheingold» – Richard Wagner
Staatsoper Unter den Linden

Kritik der Premiere am 2. Oktober 2022
Termine: 15./29. Oktober 2022, 4. April 2023

 

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