Richard-Wagner-Verband Wien

150 Jahre und kein bisschen leise

Der älteste Richard-Wagner-Verband lud zu einem Festakt ins Palais Niederösterreich. Den Mitgliedern und hochkarätigen Ehrengästen bot man ein rühriges, zum Teil erstklassiges Programm

Stephan Burianek • 14. November 2022

Fanfaren auf der Terrasse des Palais Niederösterreich kündigten den baldigen Beginn der Festveranstaltung an © Stephan Burianek

Ein Hauch von Bayreuth wehte über einem Innenhof in der Wiener Innenstadt, als auf der Terrasse des Palais Niederösterreich am vergangenen Samstag Blechfanfaren in regelmäßigen Abständen den baldigen Beginn einer Festveranstaltung des Richard-Wagner-Verbands Wien (RWV) ankündigten. Vor genau 150 Jahren wurde er als „Akademischer Wagner-Verein“ gegründet, knapp vor seinem Berliner Pendant, was ihn zum ältesten der weltweit heute insgesamt 125 Wagner-Verbände macht.

In seiner Festrede spannte der aus Berlin angereiste Präsident des Internationalen Wagner-Verbands Rainer Fineske einen Bogen von Wagners Wien-Besuchen über die Gründung des Wiener Verbands bis hin zu seiner heutigen Tätigkeit, die u.a. die alljährliche Entsendung von vier Stipendiaten zu den Bayreuther Festspielen beinhaltet, unter denen Günther Groissböck der vielleicht bekannteste ist.

Fineske sparte nicht aus, auf Wagners streitbare Persönlichkeit hinzuweisen und plädierte vor allem im Hinblick auf seine „verheerenderweise gleich zweimal veröffentlichte“ Schrift „Das Judentum in der Musik“ für eine Trennung zwischen Person und Werk: „Wir müssen Richard Wagner immer wieder aufs Neue hinterfragen und seine Persönlichkeit als Ganzes zur Kenntnis nehmen.“ Dem israelischen Wagner-Verband gab Fineske den Tipp, bei dessen Bestrebungen für die überfällige Aufführung von Wagners Werken in Israel auf Theodor Herzl, den Vater des politischen Zionismus, zu verweisen, von dem schriftlich überliefert sei, „dass er am besten mit der Musik Wagners im Kopf arbeiten könne, vor allem mit der des «Tannhäuser»“. 

Von den Intendanten in der restlichen Welt wünschte sich Fineske indes mehr Mut zu einer breiten Erweckung ehemals populärer Opern, wie beispielsweise «Die Königin von Saba» von Karl Goldmark, dem Sohn eines jüdischen Kantors und zugleich Gründungsmitglied des Wiener Richard-Wagner-Verbands. Es wäre besser, solche sträflich vernachlässigte Werke zu bringen als die hundertste Inszenierung von Wagners «Lohengrin» „oder anderer Standardwerke“, die dem Publikum „in immer fragwürdigeren Inszenierungen ohne wirkliche Interpretation oder entsprechende Aussagen präsentiert werden“, so Fineske. Zu diesem Thema schlug der Präsident ein Symposion vor und nutzte dies für einen Seitenhieb: „Aber bitte auch mit Publikumsbeteiligung, und nicht wie zuletzt in Bayreuth, wo eine solche Beteiligung während einer Podiumsdiskussion in der Villa Wahnfried einfach als störend und nicht passend ausgeschlossen wurde.“

Der Bass Hubertus Reim glänzte mit drei Wesendonck-Liedern © Marcus Haimerl

Eine zum Teil erstklassige musikalische Unterhaltung boten Künstler, die dem Wiener Richard-Wagner-Verband nahe stehen, darunter die ehemalige Stipendiatin Magdalena Renwart-Kahry, die für ihre kraftvoll-intensive Interpretation der Ballade der Senta vom Publikum bejubelt und von Maximilian Schamschula am Klavier begleitet wurde. Wohlig sonor und packend im Vortrag sang zudem Hubertus Reim, Bass im Volksopern-Chor und am Klavier begleitet von Eva-Maria David, drei Wesendonck-Lieder. Der Organist Stefan Donner, ebenso wie Renwart-Kahry ein ehemaliger Stipendiat, präsentierte u.a. Richard Wagners „Ankunft bei den schwarzen Schwänen – Albumblatt […] für Klavier“ – das wohl zurecht selten gehörte Stück erinnerte in umgekehrter Weise an Frédéric Chopin, der wiederum ein begnadeter Komponist von Klavierwerken gewesen war, sich aber ein Leben lang erfolgreich gegen die Komposition einer Oper gewehrt hatte. Der singende Rechtsanwalt Stefan Unterleithner war, von Yu Chen begleitet, mit „Habt Dank, ihr Lieben von Brabant“ aus «Lohengrin» ebenso Teil des Programms wie der Schubertbund, der den Reigen mit dem «Tannhäuser»-Pilgerchor eröffnete.

Es wäre keine Veranstaltung für Wagnerianer gewesen, hätte das Programm dem Publikum, unter dem sich auch Ehrengäste wie das Bayreuther «Ring»-Duo Cornelius Meister und Valentin Schwarz befanden, nicht ein ordentliches Sitzfleisch abverlangt. Knapp 50 Minuten sprach allein der Librettoforscher Albert Gier über „Wagner und seine Frauen“, konkret über das eher distanzierte Verhältnis zu seiner Mutter und zu seiner ersten Gattin Minna sowie über seine großteils leidenschaftlichen Gefühle für die allesamt verheirateten Frauen Jessie Laussot, Mathilde Wesendonck, Judith Gautier, für seine zweite Frau Cosima von Bülow und letztlich für Judith Gautier. Nachdem der 37-jährige Wagner die 20-jährige Laussot 1850 in Paris kennen gelernt hatte, entwarf er „einen abenteuerlichen Plan“, so Gier: Er wollte mit der wohlhabenden Jessie über Griechenland in den Orient fliehen. „Ob er daran dachte, sich mit ihr dort auf Dauer niederzulassen, was zweifellos Aufführungen neuer Kompositionen im westlichen Europa nahezu unmöglich gemacht und damit das Ende seiner Karriere bedeutet hätte, oder ob sie abwarten wollten, bis sich die Aufregung um den Skandal in Frankreich und in Deutschland gelegt hätte, ist nicht klar. Vermutlich wusste das Wagner selbst auch nicht.“ Zum Glück für das Opernpublikum wurde die Flucht von Jessies Mutter vereitelt, und Wagner fand bekanntlich in Cosima eine willige und gewissenhafte Unterstützerin und Wahrerin seines Werks. „Man kann sich im Übrigen fragen, ob Wagner sich nicht mehr in seine Neigung zu einer Frau verliebte als in diese Frau selber“, folgerte Gier.

So mancher sehnte sich anschließend nach einer Erfrischung, aber die kam zunächst nicht in der Form von Wein und Brötchen, sondern in der meisterhaft unterhaltsamen Art, wie das Ehrenmitglied Clemens Hellsberg über „Richard Wagner in Wien“ referierte – wenn der pensionierte Vorstand der Wiener Philharmoniker spricht, dann weicht der körperliche Drang einer kindlichen Neugier. Wagner, der bereits als 19-jähriger die Walzerbegeisterung der Wiener um Johann Strauss erlebte, erkannte in Wien „die Verankerung der Musik in der breiten Bevölkerung“ und fühlte sich in der Donaumetropole von Anhieb an wohl, so der mehrfache Buchautor Hellsberg. Später war es die Strauss-Kapelle, die Wagners Musik als erste in Wien spielte, noch bevor 1857 den Wienern im Lerchenfelder Thalia-Theater Wagners «Tannhäuser» vorgestellt wurde. „Im Juli 1860 hat Joseph Strauss im k.k. Volksgarten drei Fragmente aus «Tristan und Isolde» gespielt und damit die Behauptung von der Unaufführbarkeit des Werkes, bereits drei Jahre bevor dieses nach 77 Proben von der Hofoper abgesetzt wurde, ad absurdum geführt.“ Für Erheiterung sorgte Hellsberg mit Zitaten aus Johann Nestroys «Tannhäuser»-Parodie.

Clemens Hellsberg gelang in seinem Vortrag ein meisterhafter Spagat aus Bonmots und Tiefgang © Marcus Haimerl

Natürlich beleuchtete Hellsberg neben dem Zerwürfnis zwischen Wagner und dem damaligen Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick auch das Verhältnis zwischen dem Hofopernorchester und Richard Wagner, das anlässlich der «Lohengrin»-Proben „vom ersten Moment an von Herzlichkeit geprägt war“. Als Wagner 1875 in Wien das Hofopernorchester für drei Konzerte zugunsten des Bayreuther Festspielhauses dirigierte, spielte das Orchester, das Wagner als „das beste der Welt“ bezeichnete, wie es hieß, „von unvergleichlicher Sicherheit vom Blatt“. – „Was ich bezweifle“, warf Hellsberg zum Amüsement der Zuhörer ein, nicht ohne gleich zum nächsten Bonmot anzusetzen: Bei der letzten Begegnung zwischen Wagner und dem Hofopernorchester dirigierte der Meister seinen «Lohengrin» selbst. Bei der Premiere legte er während des Nachspiels nach dem Duett Ortrud / Elsa im 2. Aufzug den Taktstock auf das Pult und brachte sein Vertrauen in die Musiker zum Ausdruck, indem er das Orchester selbständig weiterspielen ließ. Danach brach im Publikum ein solcher Beifall aus, dass Wagner zu den Musikern sprach: „Mir kommt vor, es gefällt dem Publikum noch besser, wenn ich nicht dirigiere.“

Zur dunklen Seite der Wagner-Medaille sagte Hellsberg: „Für Richard Wagner gilt, wie für alle schöpferischen Genies: Sie sind für uns Wege gegangen, die wir ohne sie nicht gefunden hätten, und auch in ihren negativen Zügen kommen unsere Verirrungen in der Suche nach Vollkommenheit zum Ausdruck.“ König Ludwig von Bayern, der Wagner nötigte, dem Juden Hermann Levi das Dirigat der «Parsifal»-Uraufführung zu übertragen, zitierte Hellsberg u.a. mit „Nichts ist widerlicher und unerbittlicher als solche Streitigkeiten. Die Menschen sind im Grunde ja doch alle Brüder trotz der konfessionellen Unterschiede“, was Hellsberg zu einer bedrückenden Feststellung veranlasste: „Das ist ein einzigartiges Dokument eines Königs, der für unzurechnungsfähig erklärt wurde, weil er Traumschlösser baute, weil er eines der größten musikalischen Genies aller Zeiten förderte und weil er, abgesehen vom Preußisch-Österreichischen Krieg, in den er hineingezogen wurde, es vermied, Kriege zu führen.“

Zur Liste jüdischer Stardirigenten, die sich seither für die Musik Richard Wagners eingesetzt haben, zählt Leonard Bernstein, der gerne mit „I hate him, but I hate him on my knees“ zitiert wird. „Als wir mit Bernstein 1988 anlässlich seines 70. Geburtstags auf seinen Wunsch hin zum ersten Mal in Israel waren“, erzählte Hellsberg am Schluss seines Vortrags aus seiner Zeit bei den Wiener Philharmonikern, „da wurde ihm von einem Journalisten eine Frage gestellt, die sehr perfide war und die er auf einzigartige Weise gelöst hat: ‚Welches Orchester ist das beste der Welt – die Wiener Philharmoniker oder Israel Philharmonic?‘ – Worauf Bernstein sagte: ‚Wie kann ein Orchester das beste der Welt sein, wenn es keinen Wagner spielt?‘“

Nach knapp 3,5 Stunden mit einer lediglich zehnminütigen Pause wurde bei fliegenden Canapés weitergefeiert, diskutiert und vernetzt. Dem Richard-Wagner-Verband, der übrigens seit Juni 2022 als erster „Mäzen der Berichterstattung“ von OPERN∙NEWS einen lobenswerten Weitblick beweist, und insbesondere seiner Präsidentin Liane Bermann und ihrem Team sei an dieser Stelle herzlich gratuliert. Das vielseitige Programm im prunkvollen Rahmen und mit rührigen, zum Teil erstklassigen Kräften unterstrich den Anspruch des Vereins, Richard Wagners Werk auf einer breiten Basis mit kompetenten Kräften zu ehren und zu verbreiten.

Ob die spannenden Vorträge dieses Nachmittags in einer Gedenkschrift dokumentiert würden, war beim Schreiben dieser Zeilen noch unklar und bleibt zu hoffen.

 

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