Nuitters Offenbach-Libretti

Albert Gier • 14. Februar 2023

Dieser Artikel bildet einen Anhang zu Albert Giers Aufsatz „Charles Nuitter. Eine späte Hommage“, und wurde ermöglicht durch den Richard Wagner-Verband Wien, realisiert in redaktioneller Unabhängigkeit.

Ohne Zweifel war Nuitter Offenbachs Lieblingslibrettist, obwohl er für die großen, dreiaktigen „Offenbachiaden“ lieber mit Meilhac und Halévy zusammenarbeitete. In den sechziger Jahren schrieb er mehrere der kleinen Einakter, die zunächst während der Sommergastspiele der Bouffes-Parisiens in Bad Ems im Marmorsaal aufgeführt wurden und später in Paris in einer veränderten Fassung herauskamen: «Il signor Fagotto» (1863), «Le soldat magicien» (Der Regimentszauberer, 1864), «Jeanne qui pleure et Jean qui rit» (Jeanne die weint und Jean der lacht, 1864, alle mit Etienne Tréfeu), «La permission de dix heures» (Urlaub nach dem Zapfenstreich, 1867, mit Mélesville und Pierre Carmouche).

Die Handlung ist immer amüsant, aber nicht allzu originell: „Le Soldat magicien“ ist der Regimentspfeifer Rigobert, der Coraline, die Zofe des Ehepaars Robin, liebt. Wenn das Regiment nach Abwesenheit (vielleicht ein Manöver?) zurückkehrt, sucht er Coraline gleich auf, muss sich aber verstecken, da ihre Herrschaft zu Hause ist. Durch Zufall erfährt Rigobert, dass Robin ein Rendezvous mit der schönen Isabella hatte, aber fliehen musste, weil ihr Liebhaber, ein Offizier in Rigoberts Regiment, sie besuchen wollte; Madame Robin steigt der Advokat Popelinet nach, er hat ihr aber noch nicht verraten, wer er ist. Mme Robin ist Isabellas wegen eifersüchtig und will sich scheiden lassen, sie bittet den Advokaten (den sie zu Hause nicht angetroffen hat), sie aufzusuchen. Er missdeutet den Brief als Einladung zu einem Rendezvous und bestellt ein köstliches Souper für zwei, das man vor dem heimkehrenden Robin verstecken muss. Dass Rigobert durch sein Wissen den anderen gegenüber im Vorteil ist und das ausnutzt, ist eine uralte Theaterkonvention: In Mozarts «Nozze di Figaro» z.B. beobachtet der Protagonist, wie der Graf ein Billet liest (das Susanna ihm unbemerkt zugesteckt hat), und sich dabei an der Nadel sticht, die als „Siegel“ diente. Wenn er später von Barbarina hört, der Graf habe sie beauftragt, die Nadel Susanna zu bringen, zählt er zwei und zwei zusammen. Barbarina gegenüber erweckt er den Eindruck, er wüsste über die Sache mit der Nadel genau Bescheid, und erhält so von ihr die Information, die ihm fehlte: Es handelt sich um „das Siegel der Pinien“, damit kennt er den Ort des Rendezvous.

Rigobert behauptet, er wäre ein „Zauberer“, seine „Zauberpfeife“ könnte erscheinen lassen, was immer man wünscht; er „zaubert“ Popelinets Souper herbei, von dem vor allem er selbst und seine Kameraden profitieren. Zuletzt löst sich alles in Wohlgefallen auf: das Ehepaar Robin versöhnt sich, Madame stimmt der Heirat Coraline mit Rigobert zu, Popelinet hat das Nachsehen.


Sagenhafte Handlung

Sehr oft lässt sich Nuitter von alten Traditionen, Märchen und Sagen inspirieren: In «La Princesse de Trébizonde» (Baden-Baden 1869, mit Tréfeu) bezieht er sich auf die seit Ovid bekannte Geschichte vom Bildhauer Pygmalion, der sich in die von ihm selbst geschaffene Statue der Aphrodite verliebt; auf seine Bitte hin haucht die Göttin ihr Leben ein. Schon 1852 haben die Librettisten de Leuven und Rousseau de Beauplan die Konstellation umgedreht: ein lebendes Mädel spielt „Statue“ («La poupée de Nuremberg», Musik von Adolphe Adam). Der Spielwarenfabrikant Coppelius hat eine lebensgroße Puppe konstruiert, die er durch Zauberei zum Leben erwecken will, als vollkommene Frau für seinen Sohn. In den Kleidern der Puppe tritt ihm aber Bertha, die Geliebte seines von Cornelius um sein Erbe betrogenen Neffen, entgegen, und die beiden machen dem Alten die Hölle so heiß, dass der junge Mann zuletzt doch bekommt, was ihm zusteht. (1896 sollten die Librettisten Maurice Ordonneau und Albin Valabrègue das Thema in «La poupée», Musik von Edmond Audran, erneut variieren.)

Die „Prinzessin von Trapezunt“ ist die Hauptattraktion eines Wachsfigurenkabinetts, mit dem die Gauklertruppe Cabriolos durch die Lande zieht. Unglücklicherweise hat seine Tochter Zanetta beim Abstauben der Prinzessin die Nase abgebrochen. Das hübsche Mädchen schlüpft in die Kleider der Figur und übernimmt fürs erste ihre Rolle.

Prinz Raphaël verliebt sich in die „Wachsfigur“, sein jähzorniger Vater Fürst Casimir ist bereit, sie für ihn zu kaufen: Er will ihn später mit einer gesichts- und namenlosen Prinzessin verheiraten. Würde der Junge Erfahrungen mit Frauen machen, könnte das seinen Plan gefährden, zumal da er fürchtet, Raphaël könnte ihm selbst nachschlagen – Casimir hat es in seiner Jugend nämlich wild getrieben! Spielt er dagegen mit Puppen, ist das ja wohl ungefährlich. Das erweist sich natürlich als verhängnisvoller Irrtum: Wenn der Fürst erkennt, wer die „Wachsfigur“ in Wirklichkeit ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als der Heirat der beiden zuzustimmen.


Sonderfall romantische Oper

Eine Sonderstellung nimmt in Nuitters Œuvre die „romantische Oper in vier Akten“ «Die Rheinnixen» ein (der französische Titel „Les Fées du Rhin“ trifft es genauer, denn Wassergeister kommen kaum vor; Eduard Hanslick hatte von dem Titel „Die Feen“ abgeraten, denn man hätte an ein Remake von Wagners „großer romantischer Oper in drei Akten“ «Die Feen» denken können, obwohl – oder gerade weil – sie noch nie aufgeführt worden war): Von der Wiener Hofoper hatte Offenbach den Auftrag bekommen, eine „romantische Oper“ im Stil des Grand Opéra zu komponieren, mit Ballett, großen Chorszenen und einer Geschichte, die ähnlich wie in Scribes Libretti für Giacomo Meyerbeer – und in den historischen Romanen Walter Scotts und seiner Nachahmer – vor einem historischen Hintergrund die Geschichte fiktiver „mittlerer Helden“ erzählt. Er ließ sich dafür von Nuitter einen französischen Entwurf anfertigen, den der Theaterenthusiast (und spätere Intendant des Hoftheaters in Schwerin) Alfred von Wolzogen in deutsche Verse brachte. (Auch Meyerbeer hatte, als er 1844 als preußischer GMD ein „Festspiel“ für die Eröffnung der nach einem Brand wieder aufgebauten Hofoper zu komponieren hatte, Eugène Scribe um einen Entwurf gebeten, den Ludwig Rellstab übersetzte und versifizierte.) Es scheint charakteristisch für Nuitter, dass er diese dienende Rolle akzeptierte.

Als historischen Hintergrund wählte Nuitter den „Ritterkrieg“ am Oberrein 1522, in dem die Territorialfürsten – angeführt vom Trierer Erzbischof – über den niederen Adel – angeführt von Franz von Sickingen – triumphierten. Historische Figuren treten nicht auf, die Szene beherrschen die friedliche Landbevölkerung und die Landsknechte im Dienst der Fürsten, die als blutgierig, brutal und rachsüchtig dargestellt werden.

Vor vielen Jahren hat Conrad, der Anführer der Landsknechte, Hedwig mit einer Scheinheirat getäuscht, sie geschwängert und dann verlassen, ihre Tochter Armgard ist zu einer hübschen jungen Frau mit einer sehr schönen Stimme herangewachsen. Ihr Verlobter Franz hat sich den pfälzischen Landsknechten angeschlossen und ist zum Hauptmann aufgestiegen; nach einer Kopfverletzung leidet er an Amnesie und erkennt seine Verlobte nicht mehr. In Weinlaune zwingen die rohen Landsknechte Armgard zu singen, bis sie scheintot zusammenbricht.

Hedwig sucht die ‚Tote‘ beim Elfenstein, wo sich die jungen Mädchen, die sich zu Tode gesungen und getanzt haben, im nächtlichen Reigen vereinen (von dieser Sage erzählt eine Ballade, die Armgard vorher gesungen hat). Sie erkennt schließlich, dass ihre Tochter nicht tot ist. Deren Gesang heilt Franz von seinem Wahn. Conrad bereut, was er Hedwig angetan hat, und stellt sich gegen die Landsknechte, die die Ebernburg Sickingens in Schutt und Asche legen wollen und auch Hedwig, Armgard und Franz mit dem Tod bedrohen. Aber die Elfen und die „Geister des Rheins“ locken sie zu sich und reißen sie ins Verderben, das Gute siegt.
Dass Wolzogens Übersetzung weitgehend dem Prinzip „Reim Dich, oder ich fress‘ Dich“ folgt, war vermutlich kaum zu vermeiden. Eine Kostprobe: Gottfried, der ergebene Freund der beiden Frauen, hat um Armgards Hand angehalten, sie weist ihn ab:

GOTTFRIED (zu Armgard) Wie glücklich wär’ ich, würde ich erhört!
Mein Herz nur Dich allein begehrt!
ARMGARD Nein, niemals, nein!
GOTTFRIED Ha, was vernahm ich?
ARMGARD Nein, niemals, nein
GOTTFRIED Grausames Schicksal! All’ mein Hoffen dahin!
Welch ein Schmerz, welch ein Schmerz!
HEDWIG (zu Armgard) Kannst Du nicht nähern mir Dein Herz?
Der Mutter solltest Du vertrauen!
Armgard, o sprich – rede – !
ARMGARD Welche Qualen! – 
Ganz nah von hier, in uns’rem Orte,
Da wohnte Franz – Ihr kanntest ihn!
Sein Herz, es trieb an diese Pforte
Seit lang ihn jeden Abend hin. –  
HEDWIG Und er berückte Dir den Sinn?
GOTTFRIED Ihm gabst Du Deine Liebe hin?
ARMGARD Wenn wir hier aufeiander harrten,
Wer beschreibt meines Herzens Lust!
Konnt’ ich nie doch die Zeit erwarten,
Ach, ich liebt’ ihn, eh’ es mir selbst bewußt –  –  
Da entbrannten des Kampfes Wogen, 
Und es kam in das Dorf hieher
Von  fern ein Trupp Soldaten gezogen – 
Und ich sah meinen Franz nicht mehr!
HEDWIG Nach ihm begehrt Dein Herz so sehr?
GOTTFRIED Du harrst auf seine Wiederkehr?
ARMGARD Ja, ihm halt’ ich den Schwur der Treue,
Käm’ er auch nimmermehr zurück!
Armgard’s Herz fühlet keine Reue, 
Nein – er nur ist mein ganzes Glück! – 
HEDWIG und GOTTFRIED (für sich) Ihres Herzens Geheimnis ist jetzt mir klar;
Franz allein ihres Grames Ursach’ war
ARMGARD Ja, ihr kennt mein Geheimnis, ich sag’ es klar;
Franz allein meines Grames Ursach’ war.
ALLE DREI  Es ist nun Alles klar.

Vieles wirkt hier wie eine Parodie – vom inflationären Gebrauch der Gedankenstriche über die „entbrennenden Wogen“ bis zum pedestren „Es ist nun alles klar“ am Ende. In den folgenden 21 Versen reimt noch dreimal „Herz“ auf „Schmerz“…

Bei der Wiener Uraufführung im Februar 1864 wurde Jacques Offenbachs «Die Rheinnixen» vom Publikum enthusiastisch aufgenommen, obwohl die Oper wegen der Krankheit des Tenors Alois Ander, der den Franz sang (er starb im Dezember desselben Jahres) so stark gekürzt werden musste, dass man von einer Verstümmelung sprechen kann. In Frankreich wurde sie nicht nachgespielt – Frank Harders Wuthenows Vermutung, dass man dem Großmeister der leichten Muse den Erfolg in einem ernsteren Genre nicht gönnte, hat einiges für sich. Es kommt aber wohl noch etwas anderes hinzu: Meyerbeers letzte Oper «L’Africaine» hatte bei ihrer Uraufführung im April 1865, ein Jahr nach dem Tod des Komponisten, zwar einen Sensationserfolg – dennoch wäre eine Oper wie «Die Rheinnixen» in Paris schon ein ganz klein wenig unzeitgemäß gewesen. 1863 wurde «Les Pêcheurs de perles» von Bizet uraufgeführt, 1864 «Mireille», 1867 «Roméo et Juliette» von Gounod, 1866 «Mignon», 1868 «Hamlet» von Ambroise Thomas… über die „große romantische Oper“ war die Zeit hinweg gegangen.