Charles Nuitter

Eine späte Hommage

Richard Wagner konnte Jacques Offenbach nicht ausstehen. Trotzdem übersetzte Offenbachs Lieblingslibrettist Charles Nuitter viele Wagnerwerke ins Französische – und begründete ein Archiv von bleibendem Wert

Albert Gier • 14. Februar 2023

Charles Louis Étienne Truinet alias Charles Nuitter als Dandy, Öl auf Leinwand, Künstler und Datum unbekannt

Charles Louis Étienne Truinet (1828-1898), der seine literarischen Arbeiten mit dem Pseudonym Charles Nuitter zeichnete, muss ein außergewöhnlich liebeswürdiger und sympathischer Mensch gewesen sein: Niemand, so scheint es, weiß etwas Negatives über ihn zu sagen. In seinen letzten Jahren, als er dem Archiv und der Bibliothek der Pariser Oper vorstand, rühmten alle Benutzer die Hilfsbereitschaft, mit der er in der Masse der zum Teil nur summarisch katalogisierten Dokumente nach den benötigten Quellen suchte und sie auch fand. Außerdem war er bescheiden: Ob seine Theaterstücke unter seinem Namen veröffentlicht wurden, war ihm offensichtlich nicht sonderlich wichtig.

Nuitter hatte eine Vorliebe für die leichteren Genres, für Comédies-vaudevilles (so etwas wie das französische Pendant zur Posse mit Gesang), und vor allem für die komische Oper („opéra-comique“) und für das von Jacques Offenbach erfundene Genre des „opéra-bouffon“, in dem die Komik bis zur Absurdität gesteigert wird (die Bezeichnung „opérette“, die heute auch in Frankreich oft verwendet wird, haben Offenbach und seine Librettisten nur für Einakter benutzt). Mit Offenbach hat Nuitter häufiger zusammengearbeitet als mit jedem anderen Komponisten: Er schrieb für ihn fünfzehn Bücher, sieben Einakter, acht zwei- oder dreiaktige Stücke (meist, wie es im Frankreich des 19. Jahrhunderts üblich war, mit einem Co-Autor, seltener mit zweien oder dreien), häufig entstanden mehrere unterschiedliche Fassungen. Andererseits war Nuitter seit 1860 eng befreundet mit Richard Wagner, der Offenbach bekanntlich nicht ausstehen konnte. Der Hintergrund: Ende Januar / Anfang Februar 1860 hatte Wagner in Paris drei Konzerte mit Ausschnitten aus eigenen Werken veranstaltet, um Werbung für die geplante Aufführung des «Tannhäuser» zu machen; wenige Tage später, zum Karneval, brachte Offenbachs Theater, die Bouffes Parisiens, «Le Carnaval des revues» heraus, eine Revue in neun Bildern; hier wird Wagner als „le musicien de l’avenir“, als „Zukunftsmusiker“ karikiert, im Anschluss an den Titel seiner Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850); das hat Wagner Offenbach nie verziehen.


Fleißiger Übersetzer

Für Wagner überarbeitete Nuitter die französischen Übersetzungen von «Tannhäuser» und «Rienzi» und übersetzte selbst den «Fliegenden Holländer» und «Lohengrin». Zugleich war er auch befreundet mit Giuseppe Verdi: 1882 erstellte er gemeinsam mit seinem Freund Camille du Locle die neue französische Fassung des «Don Carlos» (in der der Fotainebleau-Akt gestrichen wurde). Er übersetzte auch «Macbeth», «Aida» und «La forza del destino», die beiden letzten wieder gemeinsam mit du Locle; von seiner Mutter, der Tochter eines Bildhauers aus Rom, hatte er wohl italienisch gelernt.

Charles Nuitters Leben ist arm an äußeren Ereignissen: Bis zu seinem Tod blieb er in der Wohnung in der Rue du Faubourg Saint-Germain Nr. 83, die seine Eltern vermutlich in den 1830er oder 1840er Jahren bezogen hatten. Nach dem Tod seiner Mutter (1858) lebte er mit seinem Vater zusammen; nachdem dieser 1875 verstorben war, verbrachte er seine letzten 23 Jahre allein. Er hat nie geheiratet und in seinem Leben offenbar nur sehr wenige Reisen unternommen. Wagner hat ihn immer wieder nach Bayreuth eingeladen, aber weder die Grundsteinlegung des Festspielhauses 1872 noch die Festspiele von 1876 oder die Uraufführung des «Parsifal» konnten ihn reizen.

Ein Brief Nuitters an Wagner enthält einen zweifellos sehr bezeichnenden Satz: „Wir [Vater und Sohn] leben also ruhig, mit wenig Wünschen und wenig Bedürfnissen; was kann man sich mehr wünschen! (4. Oktober 1871)“ Vermutlich meinte Wagner etwas Ähnliches, als er Nuitter schrieb: „Bewahren Sie sich immer ihre skeptische, und zugleich so hellsichtige gute Laune! (8. Januar 1869)“ Während der Vorbereitung der «Tannhäuser»-Erstaufführung 1860/61 verkehrte Wagner mit Vater und Sohn Truinet (in seinen späteren Briefen erinnert er oft daran, dass man sich, wohl regelmäßig, im Restaurant La Taverne anglaise zum Essen traf), und er unterlässt es nie, seine Briefe an Nuitter mit einem Gruß an dessen Vater zu schließen.


Der schreibende Anwalt

Charles Nuitter in späteren Jahren, Photographie von Mario Carquero, Datum unbekannt

Nuitters Vater war offensichtlich sehr vermögend, der Sohn war daher nie genötigt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Bei seinem Tod 1898 hinterließ er mehr als 900.000 Francs – für die damalige Zeit ein beachtliches Vermögen, obwohl er in seiner zweiten Lebenshälfte Ankäufe für die Bibliothek der Oper, für die er keine Mittel erhielt, nicht selten aus eigener Tasche bezahlt hatte. 

Nach dem Baccalauréat (dem französischen Abitur) studierte er Jura und wurde 1849 (also mit 21 Jahren!) als Anwalt zugelassen. Er praktizierte auch einige Jahre, betrieb diesen Beruf aber offenbar nie besonders ernsthaft. Seine Leidenschaft war immer das Theater, er dürfte schon als Schüler begonnen haben, Stücke zu schreiben. Er führte über seine dramatischen Arbeiten sehr genau Buch, in seinem Nachlass (in der von ihm gegründeten Bibliothek der Oper) findet sich ein Register, das etwas mehr als 500 projektierte und ganz oder teilweise ausgeführte Stücke verzeichnet. Für die vollendeten Bücher verzeichnet er auch akribisch die Phasen der Ausarbeitung, gewöhnlich im Dialog mit einem Partner. Alles in allem brachte er um die 100 Sprechstücke und Libretti zur Aufführung, einschließlich relativ weniger Ballettlibretti (aber mit «Coppélia», das er gemeinsam mit Arthur Saint-Léon für Léo Delibes schrieb, hatte er 1870 einen seiner größten Erfolge) und der Übersetzungen von Libretti aus dem Deutschen und Italienischen.

1852 kam in den Folies-Dramatiques erstmals ein Vaudeville in einem Akt von ihm zur Aufführung: «La perruque de mon oncle» (Die Perücke meines Onkels). In dieser Zeit veröffentlichte er auch juristische Artikel unter seinem Namen Truinet, für seine dramatischen Versuche, und die (nicht sehr zahlreichen) Theaterkritiken, wählte er von Anfang an das (durchsichtige) Pseudonym Nuitter. Angesichts seiner Erfolge auf dem Theater (in manchen Jahren ließ er sechs und mehr, meist einaktige Stücke aufführen) gab er den Anwaltsberuf mehr oder weniger auf: Seit Ende der fünfziger / Anfang der sechziger Jahre hat er gar keine Fälle mehr übernommen.

Im Lauf der Jahre arbeitete Nuitter mit mindestens 30 Koautoren zusammen. Wie es seinem Charakter entsprach, soll er ihnen gegenüber geduldig und konziliant gewesen sein. Einer davon, Alexandre Beaume, hatte mit ihm zusammen studiert und zur selben Zeit wie Nuitter die Zulassung als Anwalt erhalten. Auch er zeichnete seine literarischen Arbeiten mit einem Pseudoym: Beaumont. Die Aufgaben waren zwischen beiden genau verteilt: Nuitter entwarf im Allgemeinen die Handlung und schrieb die Dialoge, Beaumont steuerte die Couplets bei. Ferdinand Hérold, ein weiterer juristischer Studienkollege (der Sohn des früh verstorbenen Opernkomponisten Louis Joseph Ferdinand Hérold), der Architekt Charles Garnier und Beaume dürften Nuitters engste Freunde gewesen sein.

In einer Rangliste der besten zeitgenössischen Librettisten wird Nuitter 1864 an dritter Stelle genannt, hinter dem unglaublich produktiven Eugène Scribe (der neben vielem anderen die Bücher zu allen großen Opern Meyerbeers schrieb) und Henri de Saint-Georges, der u.a. mit Auber, Fromental Halévy und Adolphe Adam zusammenarbeitete. Die Kritik rühmt vor allem die „Leichtigkeit“ und „gute Laune“ in Nuitters Libretti und Komödien.

Ohne Zweifel war Nuitter Offenbachs Lieblingslibrettist, obwohl er für die großen, dreiaktigen „Offenbachiaden“ lieber mit Meilhac und Halévy zusammenarbeitete. In den sechziger Jahren schrieb er mehrere der kleinen Einakter, die zunächst während der Sommergastspiele der Bouffes-Parisiens in Bad Ems im Marmorsaal aufgeführt wurden und später in Paris in einer veränderten Fassung herauskamen: «Il signor Fagotto» (1863), «Le soldat magicien» (Der Regimentszauberer, 1864), «Jeanne qui pleure et Jean qui rit» (Jeanne die weint und Jean der lacht, 1864, alle mit Etienne Tréfeu), «La permission de dix heures» (Urlaub nach dem Zapfenstreich, 1867, mit Mélesville und Pierre Carmouche).


Der Wagnerübersetzer

Richard Wagner dürfte Nuitter bald nach dessen Ankunft in Paris im Herbst 1859 getroffen haben: Der Librettist war in der Welt der Pariser Oper so gut vernetzt, dass er ihm sicher in einem Salon, oder in mehreren, begegnet ist. Ob er eines der drei Konzerte besuchte, in denen Wagner Ende Januar / Anfang Februar 1860 Auszüge aus seinen Opern zu Gehör brachte, scheint nicht bekannt zu sein.

Nuitter hat schon 1857-1859 «Obéron», «Préciosa» und «Abou-Hassan» von Weber übersetzt, immer mit Alexandre Baumont, der vielleicht Deutsch konnte. Außerdem hat er wegen der musikalisch relevanten Veränderungen, die vorgenommen werden mussten, sicher oft mit Wagner debattiert, der ihm manches selbst erklärt haben mag. Mit der zusätzlichen Hilfe seines Vaters mochte es angehen.

Die französische «Tannhäuser»--Übersetzung vertraute Wagner zunächst Edmond Roche, einem Violinisten und Amateurdichter, der sich als Zollbeamter durchschlug, und dem deutschen Sänger Paul Lindau an, doch Alphonse Royer, der Direktor der Oper, lehnte sie ab und empfahl, Nuitter mit der Überarbeitung zu beauftragen (siehe weiterführendes Kapitel „Nuitters Wagner-Übersetzungen“).

Unmittelbar nach dem bekannten Pariser «Tannhäuser»-Skandal 1861 übersetzte Nuitter auf Anregung Wagners den «Fliegenden Holländer» (in seiner Fassung wurde die Oper 1872 in Brüssel aufgeführt; in Paris kam der «Holländer», als letzte Oper des „Bayreuther Kanons“, erst 1937 auf die Bühne!). 1868 übersandte er Wagner seine französische Fassung des «Lohengrin» (wie der «Holländer» ohne Koautor verfasst), der Komponist bezeichnete sie als „ein Meisterwerk der Intelligenz und der Freundschaft“ (allerdings sollte er 1882 an Édouard Dujardin schreiben: „es ist unmöglich, [«Lohengrin»] zu übersetzen oder ihn auf französisch so singen zu lassen, dass eine Vorstellung davon vermittelt wird, was [diese Oper] ist“!). Seine Vorgehensweise ist immer ähnlich wie beim «Tannhäuser».

Die Musikwissenschaftlerin Manuela Jahrmärker hat Nuitter einen „gleichsam leidenschaftslosen Wagnerianer“ genannt. Das ist möglicherweise ein Widerspruch in sich, trifft Nuitters Fall aber ziemlich genau. Der persönliche Umgang mit Wagner 1860/61 war von offensichtlich wechselseitiger Sympathie geprägt; seitdem betrachtete er Richard Wagner als seinen Freund, und seinen Freunden half er, besonders wenn sie, wie Wagner, bevor er die Protektion König Ludwigs II. genoss, in Bedrängnis waren. Am 10. April 1864 – dreieinhalb Wochen, bevor ihn die Einladung nach München erreichte – äußerte der Komponist in einem Brief an Nuitter die Absicht, für Paris eine neue Oper auf ein französisches Libretto seines Freundes zu komponieren. Wie der Librettist darauf reagiert hat, wissen wir nicht, nur sehr wenige seiner Briefe an Wagner haben sich erhalten. Von Wagners Opern hat er «Tannhäuser» (1861 und 1895), «Rienzi» (1869), «Lohengrin» (1891), «Die Walküre» (1895) und «Die Meistersinger von Nürnberg» (1897) auf der Bühne sehen können, alle in Paris, da er nicht zu Aufführungen nach Deutschland reiste (und wohl auch nicht nach Brüssel, wo im März 1870 «Lohengrin» und 1872 wie eben erwähnt «Der fliegende Holländer» gegeben wurde).

Der Komponist Wagner war ganz sicher nicht Nuitters „Gott“, wie er es für andere französische Wagnerianer war. Äußerungen über Wagners spätere Werke seit «Tristan und Isolde» sind nicht bekannt. Wagner schrieb ihm noch 1879: „Ich bin immer noch bereit, mich von Ihnen übersetzen zu lassen – mit Leib und Seele“. Allerdings hatte Nuitter zu diesem Zeitpunkt endgültig das gefunden, was er wohl als seine eigentliche Lebensaufgabe betrachtete, die Ergänzung des Archivs der neuen Oper, den Aufbau der Bibliothek, die Ordnung und Katalogisierung; die Zahl seiner Arbeiten für das Theater, Libretti und Theaterstücke, nimmt in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten deutlich ab.


Nobel ignoriert

Das Verhältnis von Wagner und Nuitter scheint nie durch Verstimmungen getrübt worden zu sein, obwohl es durchaus Konfliktstoff gegeben hätte. Vor allem Nuitter scheint sich entschlossen zu haben, manche Äußerungen und Handlungen Wagners, dem ja jegliches Taktgefühl abging, schlicht und einfach zu ignorieren. In seinen Briefen finden sich gelegentlich spöttische Bemerkungen über Nuitters Zusammenarbeit mit Offenbach, etwa am 10. April 1864: „Sie haben genügend gute Laune, um mit Offenbach Opern für Wien zu machen“ – «Die Rheinixen» waren zwei Monate vorher uraufgeführt worden, und die narzisstische Kränkung, dass Offenbachs Oper dem für unaufführbar erklärten «Tristan» vorgezogen war, saß bei Wagner offenbar tief. 1869, als der Dirigent Pasdeloup am Théâtre-Lyrique die Aufführung von «Rienzi» vorbereitete, ließ Wagner sich mehrfach zu antisemitischen Ausfällen hinreißen; Nuitter antwortete darauf nicht, obwohl Wagner in einem Fall sogar nachfragte. Auch Wagners geschmacklose Farce „Eine Kapitulation“, den Eselsfußtritt für das besiegte Frankreich, der ihn dort für fast 20 Jahre (also über seinen Tod hinaus) zur Unperson machte, hat er, so scheint es, schlicht und einfach nicht zur Kenntnis genommen.

Wagner hat Nuitter für seine Freundschaft immer wieder überschwänglich gedankt, z.B. am 16. Dezember 1867: „Sie übertreffen alles, was man sich an freundschaftlicher Güte vorstellen kann“, am 31. Dezember 1869; „Seien Sie immer überzeugt, dass ich Sie zu der sehr, sehr kleinen Zahl meiner wahren Freunde zähle“, oder am 12. Juni 1871, ein ziemlich stachliges Kompliment: „Oh mein Freund! Meine Erinnerungen an Sie, meine Kenntnis Ihres Charakters sind fast die einzigen Stützen der Hoffnung, die ich für die Rettung der französischen Nation habe.“

Wagner hat Freundschaften gepflegt, aber er hat seine Freunde auch ausgenutzt. Nuitter hat er schon im Herbst 1861 ziemlich umstandslos gebeten, mit der Direktion des Opéra-Comique über eine mögliche Aufführung des «Fliegenden Holländers» zu verhandeln. Im November 1867 bestimmte er ihn offiziell zum Vertreter seiner Interessen in Frankreich – d.h. er bürdete dem Privatmann Nuitter die Aufgaben auf, die üblicherweise ein Theateragent übernimmt, natürlich gegen Bezahlung, während er genau wusste, dass Nuitter kein Geld verlangen würde (und darauf auch nicht angewiesen war). Nuitter schrieb ihm (am 4. Oktober 1871): „Das Wesentliche für mich,  lieber Meister, ist, dass es mir gelingt, wenn die Gelegenheit sich bietet, zu tun, was Sie wünschen.“

Mit welcher Engels-, oder eher noch Eselsgeduld Nuitter dieser Verpflichtung nachkommt, zeigt der – man kann es nicht anders nennen – Eiertanz, den Wagner im Vorfeld der «Rienzi»-Aufführungen 1869 aufführt: Perrin, der Direktor der Großen Oper, möchte gern «Lohengrin» aufführen, aber nach den Erfahrungen mit «Tannhäuser» 1861 meint Wagner, eine Oper ohne Ballett sei für dieses Haus nicht geeignet, Anfang August 1868 schlägt er statt dessen «Rienzi» vor und erwägt eine Aufführung von «Lohengrin» im Théâtre-Italien. Der Dirigent Pasdeloup, einer der ersten Parteigänger Wagners in Frankreich, der im Begriff steht, die Direktion des Théâtre-Lyrique zu übernehmen, möchte ebenfalls Wagner spielen, der Komponist schlägt vor: «Lohengrin», «Tannhäuser», «Holländer», eventuell auch «Meistersinger».

Einige Tage später schließt Wagner auf eigene Faust mit Pasdeloup einen Vertrag für «Rienzi» ab und möchte ihm auch die «Meistersinger» schmackhaft  machen; «Lohengrin» soll plötzlich doch Perrin und der Großen Oper vorbehalten bleiben, obwohl Wagner an einen Erfolg des Werkes in Paris nicht glaubt – vermutlich erhofft er sich so höhere Tantiemen.


Spendabler Archivar

Oben: Die von Nuitter gegründete Bibliothek befindet sich noch heute auf der Westseite der Opéra Garnier; unten: zeitgenössische Zeichnung der Bibliothek von Hubert Clerget © Philippe Alès / CC BY-SA 3.0 (Foto)

Um 1860 begann Nuitter, sich für die Archive der Oper zu interessieren, die seit dem Bau des Opernhauses in der Rue Le Peletier dort auf dem Dachboden, ungeordnet und unkatalogisiert, lagerten: einerseits Akten, andererseits die Partituren aller seit der Gründung der Académie Royale de Musique (1672) in den verschiedenen Opernhäusern aufgeführten Werke.

Neben der Ordnung und Katalogisierung des Vorhandenen setzte sich Nuitter die Vervollständigung der Sammlungen zum Ziel, und erwies sich dabei als begnadeter Netzwerker: Er veranlasste zunächst die Überführung von Material zur Theatergeschichte aus anderen staatlichen Sammlungen in das Archiv. Außerdem erhielt er bedeutende Schenkungen und konnte mit sehr beschränkten Mitteln wichtige Ankäufe tätigen, weil er von Antiquaren und Privatleuten aus ganz Frankreich Hinweise auf interessante Angebote erhielt. Vieles davon zahlte er aus eigener Tasche.

1861 begann der Architekt Charles Garnier mit dem Bau des neuen Opernhauses auf der heutigen Place de l’Opéra. Grund für den Neubau war das Bombenattentat des italienischen Revolutionärs  Orsini auf Kaiser Napoléon III. vor dem Eingang des alten Opernhauses in der engen Rue Le Peletier. Der Neubau sollte frei auf einem größeren Platz stehen, eine separate Zufahrt und einen eigenen Eingang für den Staatschef haben. Garnier plante deshalb zwei seitliche Pavillons, in einem davon waren der Eingang für den Kaiser und die Treppe geplant, die direkt zu seiner Loge führte.

Als die Oper (nach der Bau-Unterbrechung durch den Deutsch-französischen Krieg und den Aufstand der Pariser Commune) Anfang 1875 eingeweiht wurde, gab es den Kaiser Napoléon III. nicht mehr, der Pavillon wurde Sitz des Archivs, der Bibliothek und des Museums; drei Kilometer Regale fanden darin Platz.

Nuitter, der mit Charles Garnier befreundet war, hat die Fortschritte des Baus von Tag zu Tag verfolgt und ein reich illustriertes Buch darüber geschrieben, das nach der Baugeschichte eine detaillierte Beschreibung des Gebäudes, einschließlich der Werkstätten, der Bühnentechnik etc. bietet. Es gibt auch Abschnitte über Archiv und Bibliothek. Alle dort Beschäftigten werden namentlich genannt, nur ein Name fehlt: Seinen eigenen Anteil an der Reorganisation und am Ausbau der Bibliothek erwähnt Nuitter mit keinem Wort. Vielleicht wäre es an der Zeit, der Bibliothèque de l’Opéra seinen Namen zu geben.
 


Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Richard Wagner-Verband Wien, realisiert in redaktioneller Unabhängigkeit.


 

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Literatur
Die einzige monographische Studie zu Nuitter (auf der Grundlage des Nachlasses), der die obigen Ausführungen über weite Strecken folgen, ist: Valérie Gressel, „Charles Nuitter: Des scènes parisiennes à la Bibliothèque de l’Opéra“ (Musikwissenschaftliche Publikationen, 18), Hildesheim – Zürich – New York: Georg Olms 2002. – Die Briefe Richard (und Cosima) Wagners an Nuitter und die wenigen Antwortbriefe, die sich erhalten haben, sind veröffentlich in: Richard et Cosima Wagner / Charles Nuitter, „Correspondance“, réunie et annotée par Peter Jost, Romain Feist et Philippe Reynal, Sprimont: Pierre Mardaga 2002. – Nuitters Buch über die „neue“ Pariser Oper liegt als reprographischer Nachdruck vor: Charles Nuitter, „Le Nouvel Opéra“ [Garnier] 1875. Ouvrage contenant 59 gravures sur bois et 4 plans. Claude Tchou pour La Bibliothèque des Introuvables (Collection Opéra et Art Lyrique), Paris: Bibliothèque des Introuvables 1999.


Weiterführende Texte zu diesem Artikel

Anhang 1: Nuitters Offenbach-Libretti
Anhang 2: Nuitters Wagner-Übersetzungen