Nuitters Wagner-Übersetzungen

Albert Gier • 14. Februar 2023

Dieser Text bildet einen Anhang zu Albert Giers Aufsatz „Charles Nuitter. Eine späte Hommage“, und wurde ermöglicht durch den Richard Wagner-Verband Wien, realisiert in redaktioneller Unabhängigkeit.

 

Die französische Übersetzung des «Tannhäuser»-Buchs vertraute Wagner zunächst Edmond Roche, einem Violinisten und Amateurdichter, der sich als Zollbeamter durchschlug, und dem deutschen Sänger Paul Lindau an. An diesem Lindau lässt Wagner in „Mein Leben“ kein gutes Haar: Er sei als Sänger völlig ungenügend und nicht einmal in der Lage gewesen, eine Prosaübersetzung des Librettos zu erstellen. Die französische Fassung, die der Komponist mit diesen beiden Helfern erarbeitet hatte, lehnte Alphonse Royer, der Direktor der Oper, ab und empfahl, Nuitter mit der Überarbeitung zu beauftragen. 
 

Dieser noch junge Mann von ungemein einnehmendem, freundlich-offenem Wesen [so Wagner] hatte sich schon vor einigen Monaten auf die Empfehlung Emile Olliviers, dessen Kollege als Avocat au barreau de Paris er war, bei mir eingefunden, um mir seine Mithilfe zur Übersetzung meiner Opern anzubieten. Stolz auf meine Verbindung mit Lindau hatte ich ihn jedoch abgewiesen; jetzt war aber die Zeit gekommen, wo infolge der Erklärungen des Herrn Royer das erneuerte Anerbieten Truinets in Betracht gezogen werden mußte. Er verstand kein Deutsch, erklärte jedoch selbst hierfür an seinem alten Vater, welcher längere Zeit in Deutschland gereist und sich einiges Nötige von unserer Sprache angeeignet hatte, einen genügenden Rückhalt zu haben. In Wahrheit bedurfte es nach dieser Seite aber keiner besonderen Kenntnisse, da es wirklich nur darauf anzukommen schien, den Versen welche der arme Roche unter der unverschämten Domination durch den alles besser wissen wollenden Lindau ängstlich zusammengebracht hatte, ein freieres französisches Ansehen zu geben. Mich nahm bald die unermüdliche Geduld, welche Truinet, um meinen Anforderungen auch in musikalischer Hinsicht zu entsprechen, auf immer neue Veränderungen verwendete, für diesen letzten Mitarbeiter ein. [...] Bald mit diesem oder jenem Kameraden verbunden, arbeitete er aber auch an kleinen Theaterstücken für das Vaudeville und niedere Theater, ja selbst für die Bouffes Parisiens, über welchen Teil seiner Tätigkeit er jedoch mit großer Verschämtheit stets jeder Auskunft zu entgehen wußte. War ich ihm für die schließliche Einrichtung eines singbaren und allgemein als akzeptabel beurteilten Textes meines Tannhäuser recht verbunden, so entsinne ich mich doch nicht, von seinen poetischen, ja selbst ästhetischen Anlagen hingerissen worden zu sein; wogegen sein Wert als kundiger, warm und unbedingt ergebener Freund zu jeder Zeit und namentlich in der allerschlimmsten, immer deutlicher erkannt werden durfte.


Dass jemand ohne jede Kenntnis einer fremden Sprache in der Lage sein sollte, schwierige Texte wie Wagners Libretti, mit ihren Archaismen, Neologismen, syntaktischen Eigenwilligkeiten etc. zu übersetzen, scheint kaum  vorstellbar. Nuitter hat schon 1857-1859 «Obéron», «Préciosa» und «Abou-Hassan» von Weber übersetzt, immer mit Alexandre Baumont, der vielleicht Deutsch konnte. Außerdem hat er wegen der erwähnten musikalisch relevanten Veränderungen sicher oft mit Wagner debattiert, der ihm manches selbst erklärt haben mag. Mit der zusätzlichen Hilfe seines Vaters mochte es angehen.

Um einen Eindruck von Nuitters Übersetzung zu geben, wollen wir den Anfang der ersten Szene mit Wagners deutschem «Tannhäuser»-Text vergleichen:
 

VENUS
Geliebter, sag, wo weilt dein Sinn?
VENUS
O toi que j’aime, à quoi songes-tu? dis?
TANNHÄUSER
Zu viel! Zu viel! O daß ich nun erwachte!
TANNHÄUSER
C’en est trop! C’en est trop! Que mon sommeil s’achève!
VENUS
Sprich, was kümmert dich?
VENUS
D’où viennent tes soucis?
TANNHÄUSER
Im Traum war mir’s als hörte ich – 
Was meinem Ohr so lange fremd!
Als hörte ich der Glocken froh Geläute!
O sag! Wie lange hört’ ich’s  doch nicht mehr?
TANNHÄUSER
Un rêve
Me rappelait des sons oubliés trop longtemps,
Les joyeux tintements
De la cloche lointaine.
Ah! dis-moi! Depuis quand ne les entends-je plus?
VENUS
Wohin verlierst du dich? Was ficht dich an?
VENUS
Quelle folie est la tienne!
Quel vain souci!

TANNHÄUSER
Die Zeit, die hier ich weil, ich kann sie nicht 
ermessen – Tage, Monde – gibt’s für mich
nicht mehr, denn nicht mehr sehe ich die Sonne,
nicht mehr des Himmels freundliche Gestirne; –
den Halm seh ich nicht mehr, der frisch ergrünend
den neuen Sommer bringt; – die Nachtigall
nicht hör’ ich mehr, die mir den Lenz verkünde – 

Hör’ ich sie nie, seh’ ich sie niemals mehr?

TANNHÄUSER
Des jours ici perdus
Qui me dira le nombre?
Les mois, les ans, pasent inaperçus.
Aucun soleil au milieu de cette ombre,
Pas une étoile éclairant la nuit sombre!
Je cherche en vain les fleurs dont la présence
Annonce le printemps! 
Du rossignol les doux accents
Ne fêtent plus sa naissance!
Non! plus  de fleurs! plus de joyeux accents!

 


Rückübersetzung: V. O Du den ich liebe, woran denkst Du? Sage es! – T. Es ist zuviel, es ist zuviel! Mein Schlaf möge enden! – V. Woher kommen Deine Sorgen? – T. Ein Traum erinnerte mich an Klänge, die ich zu lange vergessen habe, an den fröhlichen Klang der  fernen Glocke. Ach, sage mir, seit wann höre ich sie nicht mehr? – V. Was für eine Art von Narrheit hast Du! Was für eine nichtige Sorge! – T. Wer kann mir die Zahl der Tage sagen, die ich hier verschwendet habe? Die Monate, die Jahre vergehen unbemerkt. Keine Sonne in dieser Finsternis, kein Stern erhellt die dunkle Nacht! Ich suche vergeblich die Blumen, deren Anwesenheit den Frühling ankündigt! Der süße Gesang der Nachtigall feiert nicht mehr seine Ankunft! Kein freudiger Gesang mehr!


Richard Wagner verwendet für deklamatorische Passagen reimlose Verse, der Reim bleibt lyrisch gefühlvollen Stellen vorbehalten: Wenn Tannhäuser wenig später zur Harfe greift und zu „singen“ beginnt, setzen die Reime ein. Wagner und seine beiden ersten Mitarbeiter waren diesem Muster gefolgt, Royer wünschte, dass das Libretto von Anfang bis Ende gereimt sein sollte, wie in der zeitgenössischen französischen Oper üblich. Nuitter entspricht diesem Wunsch; er führte auch die „alternance des rimes“, den (ziemlich) regelmäßigen Wechsel zwischen Versen, die auf eine betonte, und solchen, die auf eine unbetonte Silbe enden, im Kreuzreim ein, bei Wagner stehen zehn Versen mit männlichem nur sechs mit weiblichem Ausgang gegenüber. Auch der durchgehend jambische Rhythmus des deutschen Texts ließ sich nicht beibehalten, französische Verse sind rhythmisch viel freier. Die Übersetzung wirkt dadurch fast wie ein französisches Originallibretto, was selbstverständlich von Royer (mit Rücksicht auf das Publikum) gewollt war.

Die Annäherung an die französische Oper nötigt zu manchen Abweichungen und Freiheiten im Umgang mit dem Original. Insgesamt gibt Nuitter den Sinn der Stelle zwar ganz richtig wieder; aber „die Zeit, die ich hier weil“ ist zweifellos nicht dasselbe wie „die Zahl der Tage, die ich hier verschwendet habe“ und „ den Halm seh ich nicht mehr, der frisch ergrünend / den neuen Sommer bringt“ sagt auch etwas anderes wie „ich suche vergeblich die Blumen, deren Anwesenheit den Frühling ankündigt!“ Alles in allem hat Nuitter Wagners Text das Ungewohnte, Archaisierende, Pathetische seiner Sprache weitgehend ausgetrieben; so wird aus dem ziemlich gestelzten „sag, wo weilt Dein Sinn?“ „woran denkst Du, sag es!“, was auch eine Figur in einer von Nuitters Komödien oder Opéra-comique-Libretti sagen könnte – überspitzt gesagt, wirft er den Blick des Pariser Boulevardiers auf einen Text, in dem ihm sicher manches seltsam vorkam. 

Wir haben gesehen, dass Wagner selbst mit Nuitters französischer Version sehr glücklich war. Es geht sicher zu weit anzunehmen, der Komponist, der nicht sehr gut französisch sprach und es auch nie lernte (auch nicht in der Ehe mit Cosima, die immerhin französisch erzogen worden war), hätte die Absenkung des Tonfalls nicht bemerkt. Natürlich wünschte er sich, dass die Oper Erfolg hätte, und sah sich deswegen vielleicht zu gewissen Konzessionen an den Publikumsgeschmack genötigt. – Dass er in der vieldiskutierten Frage des Balletts, das in Paris üblicherweise im zweiten Akt seinen Platz hatte, hart blieb, ist weniger mit Starrsinn als damit zu erklären, dass nicht ersichtlich ist, wer im zweiten «Tannhäuser»-Akt tanzen könnte; hätte der Komponist die Sänger schuhplatteln, oder die Pilger im Walzertakt gen Rom ziehen lassen sollen?

Auch die Silbenzahl der deutschen und der französischen Verse stimmt ungefähr, aber selten ganz genau überein, Nuitter hat oft eine Silbe mehr oder weniger, was geringfügige, aber doch spürbare Modifikationen der Vokallinie erzwingt. Da er sich damit abfand, sah er wohl ein, dass es anders nicht ging. 

Friedrich Schleiermacher hat 1838 zwei Methoden des Übersetzens unterschieden: Entweder kann man „den Schriftsteller in Ruhe lassen“ und den Leser ihm entgegen bewegen, oder man lässt den Leser in Ruhe und bewegt den Schriftsteller und sein Werk auf ihn zu. Im ersten Fall macht der übersetzte Text auf den Leser (und, bei einem Bühnenwerk, auch auf den Zuschauer) einen Eindruck von Fremdheit. Im zweiten Fall macht man es dem Publikum relativ bequem, da das Fremde zumindest auf den ersten Blick wie etwas Vertrautes wirkt.

Der stets konziliante Nuitter wollte die Operbesucher natürlich nicht irritieren oder gar provozieren, deshalb hat er gewisse Konzessionen gemacht und Wagner auf die Pariser zubewegt. Das war im übrigen gang und gebe: Der belgische Journalist und Kritiker Victor Wilder, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts alle Textbücher Richard Wagners (und übrigens auch Operetten von Johann Strauss) übersetzte, verfuhr genauso, ging vielleicht sogar noch weiter als Nuitter. Édouard Dujardin, der Herausgeber der einflussreichen Revue Wagnérienne (1885-1888), schrieb über ihn:


[Wilders Übersetzung] folgt genau dem Sinn, ihr Stil ist literarisch; sie ist klar, so sehr, dass die Deutschen, die die Verse der Walküre nicht verstehen, La Valkyrie zu Hilfe nehmen; statt ungebräuchlicher, erfundener oder wieder zum Leben erweckter Wörter des deutschen Textes sind die Wörter ganz gewöhnlich; die Grammatik ist traditionell korrekt und hat nichts von den ungewöhnlichen Kompliziertheiten der Grammatik Wagners; Wagners Metrik ist aufgegeben zugunsten der üblichen Versifikation französischer dramatischer Dichtungen – gereimte Verse (die in einem populären Werk nötig sind), keine Alliterationen, nach französischem Geschmack gegliedert, nicht nach Art des deutschen Verses; es ist eine Francianisierung dieser großartig verschiedenen Werke […]
 

Nuitter hat nach dem «Tannhäuser» auch die Übersetzung des «Rienzi» revidiert, die der Dirigent Jules Guilliaume aus Brüssel 1862 in Hinblick auf eine nicht zustande gekommene Aufführung erstellt hatte; als mit «Rienzi» 1869 die zweite Oper Wagners in Paris aufgeführt wurde (und mit 38 nahezu ausverkauften Vorstellungen außergewöhnlich erfolgreich war), wurde Nuitters Textfassung verwendet.