Oksana Lyniv

Über die moralische Verantwortung von Intendanten

Die ukrainische Dirigentin wird bei den Maifestspielen in Wiesbaden dirigieren. Auch Anna Netrebko wurde verpflichtet. Dafür steht Lyniv nun in der Kritik – zu Unrecht, wie sie findet

Stephan Burianek • 19. März 2024


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Oksana Lyniv: „Jede Aufführung an der New Yorker Met ist eine große Freude“ © Privatarchiv Oksana Lyniv

Sie dirigieren aktuell Puccinis «Turandot» an der Metropolitan Opera in New York. Wie fühlt sich das für Sie an? Inwieweit unterscheidet sich die Arbeit an der „Met“ von anderen großen Häusern?

Es fühlt sich ganz besonders an und bringt auch eine große Verantwortung mit. Ich leite die legendäre Inszenierung von «Turandot» von Franco Zeffirelli aus dem Jahr 1987, die zu den Prunkstücken des Repertoires der Metropolitan Opera gehört. Mehrere große Dirigenten unserer Zeit haben diese Inszenierung geleitet. Für mich war es gerade ein fantastisches Debüt. Die New York Times hat am Folgetag eine ausdrücklich positive Rezension veröffentlicht, wo meine Interpretation im Mittelpunkt steht. Sie sagt, ich habe eine außergewöhnliche, dramatische Kraft und Spannung in dieser Partitur entdeckt. Also, die Resonanz ist sehr groß und positiv. Das größte und wertvollste Kompliment kommt für mich aber von den Musiker:innen selbst. Es ist so toll, die zahlreichen positiven Rückmeldungen vom Orchester und Chor zu hören. Ganz besonders an dem Haus ist, dass das Niveau hier sehr hoch und sehr brillant ist. Von der ersten Minute der Probe könnte ich mich nur ums Interpretatorische kümmern. Jede Aufführung hier bietet große Freude und ist sehr inspirierend.

Als vor zwei Jahren die Große Invasion begann, war praktisch ihre gesamte Familie in den Krieg involviert. Wie geht es ihr heute und wie hat sich die Situation in der Ukraine für sie seither entwickelt?

Meine Eltern leben nach wie vor in der kleinen Stadt Brody in der Westukraine und unterstützen viele Flüchtlingsfamilien mit Kindern aus dem Osten, bieten ihnen Zuflucht und zumindest ein temporäres Zuhause. Meine Schwiegereltern leben in Odesa, die Stadt wird seit zwei Jahren heftig bombardiert. Gerade seit Beginn dieses Monats gab es zwei schreckliche Raketenangriffe mit vielen Todesopfer, darunter auch viele Kinder. Derzeit widme ich eine neue sinfonische Dichtung von Evgeni Orkin mit dem Titel «5 ungebrochene Schlaflieder» allen Kinderopfern aus Odesa und werde das Stück in Kopenhagen uraufführen.

Wie beurteilen Sie die Situation in Deutschland und Österreich, wo immer mehr Menschen der militärischen Hilfe für die Ukraine kritisch gegenüberstehen? Was würden Sie diesen Menschen antworten?

Das kenne ich leider sehr gut. Solche Stimmen gibt es auch oft in Italien, viele sind sehr pazifistisch eingestellt. Auch manche Kollegen meinen, dass der Verzicht auf Waffenlieferung den Krieg stoppen könnte. Ich sehe natürlich die Last von der Wirtschaftskrise in der ganzen Welt, die seit dem Beginn der Voll-Invasion droht. Aber es ist wichtig zu sagen: Keine dieser Personen kann den Schreck nachvollziehen, wenn man als Zivilist bombardiert wird, wenn die Raketen Tag und Nacht fliegen, wenn man die Verwandte in den Krieg schicken muss, und so weiter. Die Raketenabwehrsysteme retten Leben, und um diesen Schutz zu gewährleisten, braucht die Ukraine die Unterstützung von den Partnern. 

Derzeit werden viele schreckliche Zeugenaussagen bekannt von jenen Menschen, die von okkupierten Gebieten kommen oder okkupiert waren. Allein die Vorstellung, dass Russland noch weitere ukrainische Städte einnimmt, bricht mir das Herz, und ich möchte auch nicht in dieser Zukunft leben. An erster Stelle rufe ich dazu auf, viel mehr politischen und wirtschaftlichen Druck auf die russische Regierung auszuüben, um diesen Krieg zu beenden.  

Trotz ihrer betont pro-ukrainischen Haltung stehen Sie bei manchen Ukrainern in der Kritik. Der Vorwurf lautet, sie ließen sich regelmäßig von Festivals programmieren, auf denen auch Vertreter von Putins Kulturpropaganda auftreten. Die Wiener Festwochen haben zwar kürzlich Teodor Currentzis ausgeladen, aber bei den Maifestspielen in Wiesbaden soll nach derzeitigem Stand auch Anna Netrebko singen. Bereits vor einem Jahr gab es einen diesbezüglichen Eklat: Der damalige Intendant Uwe Eric Laufenberg hielt ungeachtet der Protest-Absagen von ukrainischen Künstlern und sogar der nachbesetzten Band Pussy Riots an der russischen Diva fest. Bereits damals verlautbarte man trotzig, dass man Anna Netrebko wieder einladen würde. Warum haben Sie die Einladung angenommen und weshalb halten Sie daran fest?

Ich glaube, der Vorwurf ist nicht richtig formuliert. Russische Künstler treten auf allen Bühnen renommierter Theater und Festivals weltweit auf. Sogar die, deren politische Haltung unter Kritik steht. Netrebko, zum Beispiel, ist mittlerweile überall eingeladen: bei den Saisoneröffnungen der Berliner Staatsoper und der Mailänder Scala, in der Pariser Oper, der Bayerischen Staatsoper, bei den Osterfestspielen Salzburg… 

Oksana Lyniv setzt sich für die internationale Verbreitung von ukrainischen Künstlern und Künstlerinnen ein © Andrea Ranzi

Aber es geht nicht um „russische“ Künstler, sondern um jene, die für Putin-Russland propagandistisch aktiv sind oder waren. Und gerade Netrebko hat in ihrem Instagram-Profil in den vergangenen zwei Jahren mehrfach Inhalte gepostet, die als Unterstützung für Russland interpretiert werden können. Wirft es nicht Fragen auf, wenn einige wenige mächtige Intendanten eine solche Künstlerin immer noch unterstützen?

Natürlich! Ich würde mir sehr wünschen, dass die Intendanten die moralische Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen und europäische Werte verteidigen würden, für welche die Ukrainer gerade kämpfen und sterben.

Okay, und wie steht es nun mit Ihrem Engagement in Wiesbaden?

Wie auch andere international bedeutende ukrainische Künstler, wie zum Beispiel Ljudmyla Monastyrska, glaube ich mittlerweile, dass es nicht nützlich ist, die eigenen Auftritte zu canceln. Damit gäbe man den Russen noch mehr Chancen auf Präsenz, weil die Ukrainer dann weiterhin im Schatten von Russland blieben. Außerdem: Wenn ein Festival die Künstler anfragt, wird man nie darüber informiert, welche anderen Künstler am Festival teilnehmen. Es kann manchmal auch zu sehr unangenehmen Situationen kommen. Daher war die Idee eines Doppel-Requiems Lyniv vs. Currentzis bei den Wiener Festwochen für mich inakzeptabel, und meine Reaktion war unmittelbar und kompromisslos. 

Bei den Maifestspielen in Wiesbaden ist die Situation anders. Ich wurde nicht als einzelne Künstlerin zum Festival eingeladen, sondern bin Teil der gesamten «Tosca»-Produktion vom Teatro Comunale di Bologna. Es war eine Gesamteinladung für ein ganzes Opernhaus samt Orchester, Chor, Solisten, Regieteam, technische Begleitung. Hier geht es um die große internationale Kooperation auf vielen Ebenen. Soweit ich das sehe, gehen in diesem Jahr nur wenige Orchester auf Tour, wie zum Beispiel das Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Unsere Tournee nach Wiesbaden ist nahezu das einzige Gastspiel eines großen italienischen Opernhauses in Deutschland – und das in Puccinis Jubiläumsjahr und nachdem die italienische Opernkunst gerade als UNESCO Welterbe anerkannt wurde. 

Für das Teatro Comunale di Bologna ist diese Tournee enorm wichtig. Selbstverständlich ist ein solches Projekt außerdem finanziell extrem aufwändig, und diese Gelder waren Jahre im Voraus eingeplant, sodass das Projekt nicht einfach abgesagt werden kann. Eine Absage und Zusage von solchen Projekten liegt gar nicht in meiner Kompetenz, sondern unterliegt dem Hessischen Kulturministerium, das das Theater als eine staatliche Institution fördert, und der Intendanz. 

Wann wurden die Verträge für dieses Gastspiel unterzeichnet? Waren Sie in die Entscheidung eingebunden?

Das weiß ich nicht, und ich war in die Verhandlungen nicht eingebunden. Die Entscheidung liegt beim Intendanten des Theaters, der selbst dem Kulturministerium unterliegt. Mit meiner Agentur wurden nur die Vorstellungstermine der Produktion koordiniert, damit sie sich nicht mit anderen internationalen Verpflichtungen überschneiden. Ich bin die Musikdirektorin des Teatro Comunale di Bologna für die musikalische Leitung dieser «Tosca»-Produktion verantwortlich. 

Nochmal, um es auf den Punkt zu bringen: Der Name Netrebko steht nicht auf der Besetzungsliste unserer Produktion. Sie singt in einer anderen Produktion, mit einem anderen Dirigenten, mit einem anderen Orchester, am anderen Tag, und ich trage keine Verantwortung dafür. 

In einem Interview mit der „Welt“ vor zwei Jahren sagten Sie, Anna Netrebko habe „als Mensch nicht das Recht, einfach wegzuschauen wie Russland gerade die Ukraine zerbombt und Menschen tötet. Als Künstler hat man eine moralische Verantwortung.“ – Wünschen Sie sich, dass das Staatstheater Wiesbaden bzw. das zuständige hessische Ministerium den Auftritt von Anna Netrebko bei den Maifestspielen absagt, um ukrainische Künstler wie Sie nicht in Verlegenheit zu bringen?

Klar, absolut. Aber leider muss ich auch sagen: Netrebkos Auftritt in Wiesbaden ist nur einer von mehreren weltweit. Ein grünes Licht für viele deutsche Theater hat meiner Meinung nach die Premiere bei der Saisoneröffnung der Staatsoper Unter den Linden in Berlin gegeben, eines der renommiertesten Opernhäuser in Deutschland, wo Anna Netrebko die Titelpartie gesungen hat. Trotz aller Proteste des ukrainischen Ministeriums, der Botschaft, vom Ukrainischen Institut und zahlreichen Demonstranten – das hat alles nichts gebracht. In Deutschland darf kein politischer Druck auf künstlerische Entscheidungen ausgeübt werden. 

Mit dem von ihr gegründeten Jugendorchester YSOU tritt Lyniv regelmäßig an unterschiedlichen Orten auf © Priska Ketterer / Lucerne Festival

Ich habe damals auch den Brief vom Ukrainischen Institut unterzeichnet, in dem dazu aufgerufen wurde, Anna Netrebko als Solistin auszuladen. Ich weiß auch, dass der ukrainische Botschafter in Berlin damals ein persönliches Treffen mit der Intendanz der Staatsoper hatte. Leider blieben alle Versuche erfolglos. Meine Haltung zu ihr hat sich nicht geändert. Ich kann mir keine künstlerische Zusammenarbeit mit ihr vorstellen. Trotzdem fühle ich meine große Verantwortung gegenüber meinem Haus in Bologna, und ich spüre in diesem Fall als musikalische Leiterin die Verpflichtung, diese Tournee wahrzunehmen. 

Unabhängig davon denke ich, dass jeder meinen Einsatz für die Entwicklung und für die Vermittlung der ukrainischen Kultur sehen kann. Ich bin an allen Orchestern sehr dankbar, die es mir ermöglichen, ukrainische Werke in meinen Programmen zu programmieren, sowie allen Festivals und Institutionen, die das Jugendorchester der Ukraine/YSOU fördern und unterstützen. Die ukrainische Musikschule und Musiktradition blieben sehr lange unterdrückt. Änderungen werden vielleicht nicht gleich in den nächsten Jahren sichtbar werden, aber ich hoffe, dass meine Bemühungen künftig zu einer positiven Entwicklung beitragen werden.


Dieses Interview erfolgte in den Tagen vor seiner Veröffentlichung in der Form eines E-Mail-Austauschs.


Oksana Lyniv ist seit 2022 die Musikdirektorin des Teatro Comunale di Bologna und damit die erste weibliche Chefdirigentin eines italienischen Opernhauses. Auch bei den Bayreuther Festspielen war sie, mit dem «Fliegenden Holländer», die erste weibliche Dirigentin in deren Geschichte. Lyniv ist regelmäßig an bedeutenden Opernhäusern zu Gast, erst kürzlich gab sie mit Puccinis «Turandot» ihr Debüt an der Metropolitan Opera in New York. Im Jahr 2016 begründete sie das Internationale Festival für klassische Musik „LvivMozArt“ in Lviv, zudem initiierte sie in Zusammenarbeit mit der Mozarteum Stiftung Salzburg eine umfassende internationale Forschung zur Franz Xaver Mozart. Nach dem Beginn der Großen Invasion in der Ukraine wurde die Gründerin und Chefdirigentin des Jugendsinfonieorchesters der Ukraine (YSOU) zudem Mitinitiatorin des Kooperationsprojekts „Music for the Future“, eines Evakuierungs-Musikcamps für junge ukrainische Musiker in Ljubljana, Slowenien. Im vergangenen Jahr führte Oksana Lyniv gemeinsam mit ihrem Jugendorchester und zwei Kinderchören in Brüssel erstmals die von ihr in Auftrag gegebene Kantate «Daddy's Book / Татусева Книга» (Vaters Buch) des ukrainischen Komponisten Evgeni Orkin über Kriegsverbrechen in der Ukraine auf.


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