Neu entdeckte Barockoper
Antigone muss nicht sterben
Eine Veranstaltung des Ukrainischen Instituts machte Lust auf eine Wiederentdeckung von Dmytro Bortnianskyis lange verschollen geglaubter Oper «Creonte», die im kommenden Jahr aufgeführt werden soll
Stephan Burianek • 25. Mai 2024
Es fasziniert immer wieder aufs Neue, wenn verloren geglaubte Werke unverhofft in Sammlungen und Bibliotheken auftauchen. Für den Cellisten und Musikwissenschaftler Pavel Serbin muss es ein ganz besonderer Moment und ein persönlicher Meilenstein gewesen sein, als er in Lissabon das fand, wonach er bereits lange gesucht hatte: Dmytro Bortnianskyis erste Oper «Creonte».
Das Orchester Wiener Akademie unter der Leitung seines Gründers Martin Haselböck plant für den Herbst des kommenden Jahres eine Aufführung des Werks. Dass dieses Projekt mit finanzieller Hilfe des Ukraine Office Austria vom österreichischen Außenministerium realisiert werden soll und am vergangenen Donnerstag im Wiener Haus der Musik im Rahmen einer Veranstaltung des Ukrainischen Instituts vorgestellt wurde, mag auf den ersten Blick überraschen – immerhin gilt Bortnianskyi der Musikwelt immer noch als russischer Komponist.
Mit diesem Missverständnis räumte man in Wien auf: Dmytro Bortnianskyi wurde in der ukrainischen Stadt Hlukhiv am Hof des Kosaken-Hauptmanns Kirill Rasumowski geboren und bereits im Alter von acht Jahren für eine musikalische Weiterbildung nach St. Petersburg geschickt, wo ihn der bedeutende Komponist Baldassare Galuppi (1706-1785) unter seine Fittiche nahm. Oleksandra Saienko, die in Wien das Kulturfestival UStream verantwortet und gelegentlich als Produzentin der zeitgenössischen Oper «Vyshyvanyi. Der König der Ukraine» auftritt, sieht in Bortnianskyi eines von vielen Beispielen für Russlands Aufsaugen von fremden Kräften und betonte die Notwendigkeit, auch den Westen auf den überfälligen Prozess der Dekolonisation der Ukraine und auf das noch viel zu wenig bekannte Erbe ihres Heimatlandes aufmerksam zu machen (ein spannendes Interview zu diesem Thema finden Sie hier).
Tatsächlich sollen damals die meisten musikalischen Kräfte am Zarenhof aus Hetmanat, dem Kosaken-Gebiet auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, gekommen sein, erklärte die Musikwissenschaftlerin Anna Gadedska in einer kurzen Einführung in die Entwicklungsgeschichte der sakralen ukrainischen Barockmusik: Früh hatte dort die Polyphonie (mehrstimmiger Gesang) die Monophonie (einstimmiger Gesang) abgelöst und die Notation wurde geändert, wodurch eine eigene musikalische Tradition begründet wurde, die sich zuerst in Kiew und später ab den 1730er-Jahren in einer Musikschule in der damaligen Hauptstadt Hlukhiv etablierte. Von dort sollen im 18. Jahrhundert alljährlich rund zehn talentierte Burschen nach St. Petersburg geschickt worden sein. Auch Maxim Beresowski, der als Komponist ebenfalls in der zaristischen Hofkapelle Karriere gemacht hat, stammte aus Hluchiw.
Dmytro Bortnianskyi begleitete Baldassare Galuppi für eine weitere Ausbildung nach Italien, wo er als 24-Jähriger für das Teatro San Benedetto in Venedig seine erste Oper «Creonte» schrieb. Zu jener Zeit gab es in Venedig gut ein Dutzend Opernhäuser, die während der Karnevalsaison spielten. Das Teatro San Benedetto war aber nicht irgendein Theater, sondern gilt als jenes Haus, das später vom Teatro La Fenice abgelöst wurde. Später wurde es übrigens in „Teatro Rossini“ umbenannt, nachdem dort mehrere Rossini-Opern uraufgeführt worden waren, und heute befindet sich in seinen Grundmauern ein Multiplex-Kino, das Cinema Multisala Rossini.
Bortnianskyi komponierte «Creonte» auf ein Libretto von Marco Coltellini, das im Wesentlichen dem Sophokles-Drama „Antigone“ folgt, auch wenn die Oper ein Happy End aufweist. Bei der Wiener Veranstaltung auf die musikalische Qualität angesprochen, geriet der Konzertmeister und Violinsolist des Orchesters Wiener Akademie Ilia Korol ins Schwärmen: „Es ist wirklich eine ganz besondere Musik, die stilistisch zwischen Spätbarock und früher Klassik einzuordnen ist und zu ihrer Zeit daher überaus modern war und schon in die Richtung von Haydn geht.“
Unter Korols Leitung waren vom Orchester Wiener Akademie im vergangenen Dezember bereits Teile der Oper vorgestellt worden: Im Rahmen eines Benefizkonzerts zugunsten von Engergizing Ukraine hatte damals die Mezzosopranistin Lena Belkina, die ihre Karriere mittlerweile als Olena Leser fortsetzt, im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins zwei Arien des Adrasto gesungen. Eine davon präsentierte sie auch bei der Veranstaltung im Haus der Musik: Begleitet durch den Pianisten Pantelis Polychronidis sang sie „D’un anima tiranna“ (Von einer tyrannischen Seele). In dieser Arie bringt Adrasto seinen Ärger über Thebens König Kreon, seinem Chef, zum Ausdruck. Dieser hatte bekanntlich verfügt, dass der Leichnam von Antigones Bruder Polyneikes nicht bestattet werden dürfte, und Adrasto wird die undankbare Aufgabe zuteil, Antigone für ihre Tat einsperren zu müssen. Trotz der Kürze der Darbietung verstand es Leser eindrucksvoll, den Anwesenden Adrastos Mitleid, Leidenschaft und Tragik zu vermitteln – und auf Bortnisanskis frühe Meisterschaft aufmerksam zu machen.
Ob man dieses Werk im kommenden Jahr in konzertanter oder in szenischer Form wird aufführen können sei noch nicht sicher, so Korol, denn für eine Inszenierung fehle derzeit noch das Geld. Von Martin Haselböck wurde daher der Präsident des Orchestervorstands Peter Krall geschickt, der um Spenden für Energizing Ukraine bat, einer Initiative mit dem Ziel, verfolgten Künstlern und Künstlerinnen die Möglichkeit zu bieten, ihren Beruf auch in Zukunft auszuüben.
Am 12. Juli 2024 wird das Programm des besagten Benefizkonzerts im Rahmen des Kirch'Klang-Festivals im Schloss Kammer am Attersee wiederholt. Das Ukraine Office Austria, das die Initiative Energizing Ukraine unterstützt, war im Haus der Musik durch seinen Direktor Andreas Wenninger vertreten.
Im Übrigen war auch der Librettist Marco Coltellini ein ganz Großer, immerhin schrieb er u.a. für Gluck, Hasse, Scarlatti, Salieri und für den 12-jährigen Mozart («La finta semplice»). Sein Lebenslauf könnte außerdem selbst Stoff für eine Oper liefern. Als Inhaber einer Druckerei in Livorno lernte er Größen wie Pietro Metastasio und Christoph W. Gluck kennen, verlegte sich dann aufs Schreiben und schaffte es zum Hofpoeten der Habsburger in Wien – bis er Maria Theresia mit Satiren derart verärgerte, dass sie ihn kündigte. In Folge wurde er vom Zarenhof in St. Petersburg aufgenommen, doch auch dort verärgerte er seine Brötchengeber. Nach seinem überraschenden Tod kam das Gerücht auf, die Zarin hätte ihn vergiften lassen. Wenn man diesem Gerücht glaubt, stellt man unweigerlich fest, dass sich die Verhältnisse in Russland seither kaum geändert haben.
Zum Thema
OPE[R]NTHEK / UKRAINISCHES INSTITUT
Wiederentdeckung des barocken Erbes: Vorstellung des ukrainischen Komponisten Dmytro Bortnianskyi. – Broschüre, Ukrainisches Institut, Mai 2024
OPERN·NEWS
Dekolonisation: „Wir wollen das imperialistische Etikett loswerden“, Interview mit Tetyana Filevska, Kreativdirektorin am Ukrainischen Institut. – Von: Stephan Burianek, 17.05.2024
FACEBOOK / USTREAM
Video zur Präsentation der Oper im Haus der Musik am 23. Mai 2024