Haydneum
Forschen und feiern
Einen regen Zulauf erfuhr in Budapest das 4. Haydneum-Herbstfestival, das auch ungarische Spitzenmusiker und -musikerinnen zurück in ihre Heimat lockt
Werner Kopfmüller • 15. November 2024
Kunst von Weltrang ist kein Privileg der Metropolen. Dafür finden sich, zumal in der Musikgeschichte, eine Reihe schlagender Beweise. So komponierte der große Johann Sebastian Bach weite Teile seines Instrumentalwerks, wie die Brandenburgischen Konzerte oder das Wohltemperierte Klavier, in Weimar und Köthen, beides Duodezfürstentümer im Vergleich zu seiner späteren Wirkungsstätte, der pulsierenden Handelsstadt Leipzig.
Noch eindrücklicher ist das Beispiel Joseph Haydn. Der Komponist verbrachte bekanntlich drei Jahrzehnte seines Lebens, von 1761 bis 1790, in Diensten der Esterházys, einer immens vermögenden Adelsfamilie im damaligen Königreich Ungarn. Als livrierter Hofmusiker folgte er seinem Arbeitgeber zu dessen drei Hauptresidenzen: den Stammsitz in Eisenstadt, der heutigen Hauptstadt des Burgenlandes, dem Winterpalais in Wien und Eszterháza, das „ungarische Versailles“, ein imposantes Schloss, errichtet in den 1780er-Jahren im ländlichen Ungarn. Trotz oder womöglich gerade wegen der räumlichen Abgeschiedenheit schuf Haydn in dieser Zeit eine Vielzahl epochemachender Werke, Sinfonien, Kammermusik, Opern. Die Geburt der „Wiener Klassik“, sie ereignete sich in der Provinz.
Musikschätze-Forschung
In Erinnerung daran wurde Schloss Esterházy, auch Schloss Fertőd genannt, in jüngster Vergangenheit als Festspielstätte wiederentdeckt und neu belebt (OPERN·NEWS berichtete). Veranstalter ist das „Haydneum“, wie das 2021 gegründete ungarische Zentrum für Alte Musik heißt. Die Aktivitäten dieses Nationalinstituts sind so vielfältig wie ambitioniert: Neben jährlich wiederkehrenden Festspielwochen auf Schloss Esterházy und in der Hauptstadt Budapest, ist seit 2022 ein gewaltiges Forschungsprojekt in vollem Gange. In Kooperation mit der Széchényi-Nationalbibliothek verfolgt man nämlich das Ziel, die in den dortigen Bibliotheksbeständen schlummernden musikalischen Schätze zu heben, d.h. die jahrhundertealten Dokumente, darunter Notendrucke, Partituren, Originalmanuskripte, Traktate etc.) restauratorisch aufzubereiten, um sie anschließend Seite für Seite abzufotografieren. Fast 90.000 Einzelseiten sind seither als Digitalisate in einer Datenbank erfasst worden und können somit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Das Prachtstück des gigantischen Dokumenten-Korpus ist die Esterházy-Sammlung, wie Projektleiterin Katalin Kim erklärt. Sie zählt zum Wertvollsten des einstigen Notenarchivs der adeligen Musikmäzene. Darin enthalten sind nämlich Originalmanuskripte und zeitgenössische Abschriften von Werken von Joseph Haydn (1732-1809), dessen Vorgänger im Amt des Kapellmeisters, Gregor Joseph Werner (1693-1766), von Bruder Michael Haydn (1737-1806) sowie von Johann Georg Albrechtsberger (1736-1809), dem Lehrer Beethovens. Hinzu kommen außerdem handschriftliche Quellen des italienischen Opernrepertoires, das einst im Opernhaus von Eszterháza aufgeführt wurde.
Doch im Erschließen und Kategorisieren von Notenbeständen erschöpfen sich die ehrgeizigen Pläne des Haydneums längst nicht. „Wir entdecken so viel Musik, die mit zum Besten ihrer Zeit gehört, und doch völlig in Vergessenheit geraten war. Die müssen wir aufführen, um sie wieder bekannt zu machen,“ sagt György Vashegyi, der als künstlerischer Leiter für den Konzertbetrieb des Haydneums verantwortlich zeichnet. Man spürt den Enthusiasmus des gebürtigen Budapester, der sich seit 1998 darum bemüht hatte, in Ungarn ein international wirkmächtiges Zentrum für Alte Musik zu errichten – bis 2021, mitten in der Corona-Krise, endlich das notwendige Fördergeld floss, freigegeben von oberster staatlicher Stelle. „Wir hatten also ausreichend Zeit, unser Konzept für ein solches Nationalinstitut auszuarbeiten und konnten währenddessen von anderen lernen, wie man ein solches Mammutprojekt strategisch angeht.“
Vashegyi verweist dabei auf das Palazzetto Bru Zane in Venedig, das sich der Musik vergessener bzw. weniger bekannter französischer Komponisten aus der Zeit zwischen etwa 1780 und 1920 verschrieben hat – was nicht nur in Italien von großem medialem Interesse begleitet wird. Dabei würden zyklischen Aufführungen und CD-Einspielungen eine entscheidende Rolle zufallen.
Vashegyi steht der Ungarischen Nationalphilharmonie als GMD vor und leitet zudem zwei von ihm Anfang der 1990er-Jahre gegründete Klangkörper, das Orfeo-Orchester und den Purcell-Chor, die einen Großteil der Konzertes Haydneums stemmen. Natürlich weiß er, dass ein noch junges Institut für Alte Musik zunächst im heimischen Ungarn Fuß fassen muss, bevor es sich in den Konkurrenzkampf mit den europäischen Spezialfestivals begibt. Gerade im Bereich der Sakralmusik, die in der sozialistischen Vergangenheit des Landes keine große Lobby hatte, bestünde Aufholbedarf.
Budapester Herbstfestival
Vashegyi setzt auf klug kuratierte Programme und Konzertformate an geeigneten Spielstätten bei moderaten Ticketpreisen, um das lokale Klassikpublikum zu adressieren. Beim bereits 4. Haydneum-Herbstfestival scheint die Rechnung aufzugehen: Alle vier Konzerte, in Sälen mit 250 bis 1200 Sitzplätzen, sind bestens besucht.
Das mag auch an den Stars der Szene liegen, die dazu eingeladen worden sind: Die Flötistin Anna Besson mit Jean Rondeau am Cembalo präsentiert Musik der Bach-Familie, ebenso der französische Lautenist Thomas Dunford, der sich im Spiegelsaal des Palais Festetics mit einem reinen Bach-Programm vorstellt. Dafür hat er Bachs Cello-Suite G-Dur auf sein Instrument transponiert – und aus der im Original verborgenen Mehrstimmigkeit ein Geflecht feinstgewobener Klangfäden geschaffen. Weniger überzeugt hingegen die Bearbeitung der berühmten Chaconne d-Moll, der die substantielle Wucht der Violin-Solo-Fassung fehlt. Eine Eigenheit in Ungarn ist übrigens, dass das Publikum beim Schlussapplaus wie automatisch in ein synchronisiertes Klatschen überwechselt. Das verwundert und freut den Künstler gleichermaßen, und deswegen werden im Zugabenblock noch zwei Beatles-Songs mit Lautenbegleitung gemeinsam angestimmt: „Blackbird“ und „Yesterday“.
Zwischen den beiden Bach-Abenden ist ein Programm platziert, das sich standesgemäß mit dem Namenspatron des Instituts beschäftigt. In der Liszt-Akademie kombiniert die Capella Savaria Joseph Haydns Konzert für Cembalo und Violine in F-Dur Hob XVII:6 und seine Symphonie e-Moll Nr. 44 mit zwei Werken des Bruders Michael, der Symphonie in G-Dur, Perger 16, sowie seinem Violinkonzert, ebenfalls in G-Dur. Unter Leitung von Konzertmeister Zsolt Kalló, mit Rita Papp am Cembalo, waltet ein gepflegtes Musizieren, das dynamische Kontraste meidet und die Extreme im Tempo erst gar nicht sucht. Dank eines dramatisch verdichteten Streicherklangs hinterlässt immerhin die e-Moll-Sinfonie einen starken Eindruck.
Wesentlich zupackender zeigt sich hingegen das Orfeo Orchestra mit Györgyi Vashegyi am Pult. Gespielt wird im Haus der ungarischen Musik, einem hochmodernen Kulturzentrum, das der japanische Stararchitekt Sou Fujimoto entworfen hat. Es beherbergt eine ausgezeichnete Dauerausstellung zur abendländischen Musik im Allgemeinen und der ungarischen Volksmusik im Besonderen, pädagogisch ansprechend gestaltet, mit wohltuend dosiertem Multimedia-Einsatz. Viele Familien sind hier am Sonntagnachmittag anzutreffen, auch im Konzert sitzt ein altersmäßig erstaunlich durchmischtes Publikum. Alle lauschen aufmerksam der Gesprächsrunde, in der sich Vashegyi, die Solisten Petra Somlai und Musikwissenschaftler András Batta, natürlich auf Ungarisch, über die Entstehungsgeschichte zu Mozarts „Jeunehomme“-Klavierkonzert Es-Dur austauschen. Überdies gibt es eine Rarität zu entdecken: Das Klavierkonzert B-Dur der Komponistin Anna von Schaden (1763-1834), erschienen 1788, überrascht durch sein harmonisch schweifendes Adagio und ein kokettes Variationen-Finale.
Petra Somlai lässt am Hammerflügel (ein Nachbau eines Instruments aus den 1790er-Jahren), die Melodiebögen sanft leuchten, phrasiert so beredt wie elegant, und verleiht Haydns D-Dur-Klavierkonzert Hob. XVIII:11 sprühenden Spielwitz bei gleichzeitiger Akkuratesse in der Artikulation. Wie nicht wenige Musikerinnen des Landes, hat diese fabelhafte Pianistin zwar in Budapest studiert, sich den letzten Schliff ihrer Ausbildung jedoch im Ausland geholt und unterrichtet mittlerweile als Professorin für Historische Aufführungspraxis am Königlichen Konservatorium in Den Haag. Bei den Konzerten des Haydneums tritt sie regelmäßig auf.
Auch diese Hoffnung knüpfen Vashegyi und sein Team an das Nationalinstitut: Dass es sich zum Leuchtturm entwickelt und ungarische Spitzenmusiker zurück in ihre Heimat lockt. Weil das Niveau sich mit dem anderer Hochburgen der Alten Musik messen kann. Noch mehr internationales Publikum darf dann gern folgen.
Haydneum-Herbstfestival
Kritik der Konzerte vom 8. bis 10. November