Universität Mozarteum Salzburg
Übergroßes Weh mal sieben
Der Online-Stream einer bemerkenswerten Produktion von Christian Josts Neukomposition der «Dichterliebe» zeigt, dass manche Musikunis für das Publikum eine spannende Ergänzung zu Opernhäusern bilden
Stephan Burianek • 21. Februar 2025
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Die Liebe ist ebenso wenig planbar wie das Leben. Nicht immer trifft man die richtigen Entscheidungen, nicht immer lässt sich das Erlebte gut verdauen. Kein Wunder, dass manche ihr Heil im Irrationalen suchen: „Was lehrt Gott uns wirklich“, steht auf dem mobilen Stand einer religiösen Sekte, mit deren Werberin in einer grauen Bahnstation eine Inszenierung beginnt, um die jedes gut subventionierte Opernhaus zu beneiden wäre (Bühne: Yvonne Schäfer).
Die Sekten-Werberin heißt im richtigen Leben Julia Maria Eckes, ist Studentin an der Universität Mozarteum in Salzburg und hat bereits davor Bühnenerfahrung gesammelt. Zuletzt war sie in einer Uni-Mozarteum-Inszenierung von Brittens «The Turn of the Screw» zu sehen, die im vergangenen Sommer im Rahmen des Festivals der Accademia di Chigiana in Siena erarbeitet wurde. Auch damals zeichnete Florentine Klepper für die Regie verantwortlich, die freilich mehr ist als eine Opernregisseurin. Klepper bereitet als Universitätsprofessorin für Musikdramatische Darstellung seit dem vergangenen Jahr Nachwuchssänger und -sängerinnen auf ihre Bühnenkarriere vor.
Im Jänner erarbeitete sie mit ihren Student:innen Christian Josts Neukomposition von Schumanns «Dichterliebe», die zwar die Schumann’schen Gesangslinien beibehalten hat, diese aber mittels Kammerorchester in einer innig-emotionalen, mal pulsierenden, mal drohenden und letztlich soghaften Verdichtung einbettet. „Ich habe Räume betreten, deren Türen Schumann aufgestoßen hat“, sagt Jost über seine «Dichterliebe», die seit ihrer Uraufführung im Jahr 2017 regelmäßig aufgeführt wird.
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Wie auch das Schumann’sche Original ist die Jost’sche «Dichterliebe» eigentlich für einen Solo-Tenor komponiert, der zwischen freudiger Hoffnung und frustrierter Ernüchterung sämtliche Stadien durchlebt. Nun hatten Florentine Klepper und Kai Röhrig, der ebenfalls als Uniprofessor für die musikalische Einstudierung verantwortlich ist, aus ausbildungstechnischen Gründen die Idee, das Werk auf mehrere Sänger aufzuteilen und gleich mehrere Geschichten zu erzählen. „Ich stehe solchen neuen Konzepten sehr offen gegenüber und unterbinde Aufführungen des Werks nur, wenn lediglich Teile daraus aufgeführt werden sollen“, sagt Jost – seine durchkomponierte «Dichterliebe» gibt es nur als Zyklus.
Das Ergebnis aus dem Max Schlereth Saal der Uni Mozarteum ist nun in einem kostenlosen Online-Stream nachvollziehbar: Während der ersten Takte betritt ein schnöseliger junger Mann mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Sekt die Bahnstation, setzt sich in einiger Distanz zur Sekten-Vertreterin und beginnt mit „Im wunderschönen Monat Mai“, dem ersten von 16 kurzen Liedern auf Gedichte von Heinrich Heine. Ein gefühlstrunkenes, übermütiges Liebespaar, das seine Umgebung kaum wahrzunehmen scheint, betritt die Bühne: „Aus meinen Tränen sprießen / Viel blühende Blumen hervor“, singt er, sie kichert viel. Doch bald schlägt die Stimmung um. Denn der Zug lässt auf sich warten, auch eine Bahnmitarbeiterin, ein Cellist und eine Bettlerin gesellen sich hinzu – man lernt einander besser kennen, was gut ist oder auch nicht.
Von Beginn an zieht die unglaubliche Qualität in Bann, mit der das Ensemble für zeitgenössische Musik der Universität Mozarteum Josts pulsierende Musik unter der Leitung von Kai Röhrig umsetzt. Die Grenze zu einem renommierten Profi-Orchester lässt sich hier nicht ziehen, so exakt wird intoniert, so packend die emotionalen Schwebe- und Ausnahmezustände interpretiert. Ein Höhepunkt sowohl in der Partitur als auch in der Salzburger Aufführung sind ostinate Streicher am Beginn von „Ich habe im Traum geweinet“, die Röhrig ganz nahe am Steg, geradezu metallisch hart hämmern lässt.
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Obwohl die Sänger für diese Produktion naturgemäß nicht eigens gecastet wurden, sondern ebenso wie in Repertoiretheatern jene Partien bzw. Gesangsparts erfüllen müssen, die man ihnen auferlegt, erhalten sie im Laufe des Abends mehrfach die Gelegenheit, ihre Stärken auszuspielen. Julia Maria Eckes (Sekten-Vertreterin) und die Ukrainerin Anastasia Fedorenko (Bettlerin) glänzen mit guter Stimmkraft, Claire Winkelhöfer (Bahn-Mitarbeiterin) wiederum mit einer stimmlichen Wärme und vortrefflichen Gestaltung von „Wenn ich in deine Augen seh“. Dominik Schumertl singt in „Hör ich das Liedchen klingen“ souverän vom „übergroßen Weh“, bevor er als Cellist seinen Trost bei der Sekten-Vertreterin findet. Yonah Raupers punktet als anfänglicher Liebhaber mit guter Stamina und zeigt in „Ich hab im Traum geweinet“, dass er zur Attacke fähig ist. Lucas Pellbäck bewegt mit einem innigen Piano, und Sveva Pia Laterza, die als anfänglich überschwängliche Verliebte letztlich still in den Tod springt, mit einer schlanken und gleichermaßen ausdrucksstarken wie engelhaften Stimme.
Nach einer knappen Stunde war im Max Schlereth Saal nicht Schluss, sondern lediglich Pause. Danach erlebte man das Stück nochmals, und zwar als choreografische Glanzleistung wie in einem zurückgespulten Film. Dadurch änderte sich auch der Ausdruck in den einzelnen, nun in einer anderen Sängerreihenfolge interpretierten Liedern: Was im ersten Teil noch hoffnungsfroh klang, kam nun mit einer starken sentimentalen Färbung. Was wäre gewesen oder eben nicht gewesen, wäre der Zug gekommen?
An einem renommierten Opernhaus hätte Kleppers Arbeit vermutlich gute Chancen auf eine Nominierung für einen Regiepreis. An der Uni Mozarteum haben indes ihre Studenten und Studentinnen die Gewissheit, in den besten Händen zu sein – und das Publikum die Chance, manchen Star von morgen bereits heute kennen zu lernen.
«Dichterliebe» - Christian Jost nach Robert Schumann
Universität Mozarteum Salzburg · Max Schlereth Saal
Kritik der Aufführung am 25. Januar
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