Valery Gergiev

Überschreitet Italien die rote Linie?

Putins Maestro kehrt mithilfe von EU-Mitteln in den Westen zurück. Wie ist das möglich? Und was bedeutet das für die Zukunft?

Katia Margolis • 08. Juli 2025


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Putin mit seinem mächtigsten Kulturmanager Valery Gergiev bei einer Pressekonferenz in St. Petersburg im Jahr 2013 © kremlin.ru, CC BY 4.0

Valery Gergiev, der russische Dirigent und langjährige Verbündete von Wladimir Putin, wird am 27. Juli beim Festival „Un’Estate da Re” im Königspalast von Caserta in Italien auftreten. Eintrittskarten sind bereits im Verkauf. Das geplante Konzert markiert Gergievs lautstarke und umstrittene Rückkehr auf die europäische Bühne nach Jahren der Ausgrenzung aufgrund seiner loyalen Unterstützung für Russlands Krieg gegen die Ukraine – und erstaunlicherweise mit Hilfe öffentlicher Mittel, darunter durch den Kohäsionsfonds der Europäischen Union. Und das, obwohl Gergiev in mehreren Ländern mit Sanktionen belegt wurde.

Im Gegensatz zu Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern, wo Kulturinstitutionen die Beziehungen zu den meisten kremlfreundlichen Künstlern abgebrochen haben, hat Italien einen „toleranteren“ oder „neutraleren“ Ansatz gewählt. Einige wiederholen sogar das Lieblingsmantra der russischen Propaganda: „Kunst steht über der Politik.“

Zur Erinnerung: In Deutschland wurde Gergiev von den Münchner Philharmonikern gefeuert, in Großbritannien schloss man ihn vom Edinburgh Festival und anderen Programmen aus, in den USA wurden seine Auftritte und Tourneen abgesagt, in Frankreich wurde ihm der Zutritt zum Théâtre des Champs-Élysées und anderen Veranstaltungsorten untersagt, und in Kanada wurde er von der Regierung auf eine Sanktionsliste gesetzt. 

Aber in Italien wird Gergiev mit offenen Armen empfangen – alles im Namen des „kulturellen Dialogs“, obwohl in der Ukraine weiterhin unglaubliche Kriegsverbrechen begangen werden. Gergiev hat seine Loyalität gegenüber dem Putin-Regime nie verheimlicht. 


Speerspitze der Propaganda

Wenn man bedenkt, dass der russische Kultursektor seit der Sowjetzeit, ebenso wie der Sport, auf nationaler wie internationaler Ebene einen Propaganda-Zweck verfolgt, muss Gergiev als der wichtigste kulturelle Vertreter des Systems Putin angesehen werden. Lange bevor Russlands Krieg gegen die Ukraine 2014 begann, galten die beiden Alpha-Männer bereits als enge Vertraute. Als Gergiev, der seit fast drei Jahrzehnten Generaldirektor des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg ist, sich zu Beginn der großen Invasion klar auf die Seite Putins stellte, wurde er 2023 außerdem zum Generaldirektor des Bolschoi-Theaters in Moskau ernannt. Damit leitet Gergiev die beiden wichtigsten nationalen Kulturinstitutionen Russlands, die bereits während der Sowjetzeit die Speerspitze der russischen Kulturpolitik bildeten. Ihre Künstler sammeln Geld für Waffen gegen die Ukraine, und Balletttänzer, die Kritik äußern, stürzen von Balkonen und aus Fenstern. [1]

Natürlich bejubelte Gergiev den Präsidenten öffentlich, unterstützte Russlands „große Wiederbelebung” und befürwortete 2014 die Annexion der Krim. Im selben Jahr dirigierte er in Moskau ein Konzert zu Ehren der russischen Streitkräfte. Nach dem vollständigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 riefen Kulturführer auf der ganzen Welt zu einem Boykott Gergievs auf und warfen ihm direkte Mitschuld an der Aggression des Kremls vor. Große Orchester und Opernhäuser in Europa und den USA trennten sich von ihm. Dennoch blieb Gergiev standhaft, bekräftigte seine Unterstützung für Putin und erhielt im Gegenzug noch mehr Rückhalt aus dem Kreml.

Dieses Foto wurde im Jahr 2016 vom russischen Verteidigungsministerium (!) veröffentlicht. Es zeigt Valery Gergiev während des „Befreiungsskonzerts“ im frisch eroberten Palmyra (Syrien)

Seine Vorliebe für Diktatoren und Kriegsherren reicht schon lange zurück. Im Jahr 2008 dirigierte Gergiev ein Konzert in Zchinwali, Südossetien – einer Region Georgiens, die damals wie heute unter russischer Militärkontrolle steht –, was als Hommage an zivile Opfer vermarktet wurde (bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Gergiev selbst einer Osseten-Familie entstammt). Im Jahr 2016, nach der militärischen Eroberung Palmyras durch Russland und Syrien, gab Gergiev ein viel beachtetes „Befreiungskonzert“ inmitten der Ruinen. Das Konzert wurde im russischen Staatsfernsehen übertragen und diente der Kulturpropaganda, um die Rolle Moskaus in Syrien zu legitimieren und Putins Image als „Verteidiger der Zivilisation“ zu stärken.

Und nun, im Juli 2025, soll Gergiev also in Kampanien auftreten – bei einem Festival, das teilweise von der italienischen Regierung, der Regionalverwaltung Kampaniens, dem Teatro Verdi in Salerno und dem italienischen Kulturministerium finanziert wird. Es wird offiziell als vom EU-Kohäsionsfonds (Fondi Coesione Italia 21/27) unterstützte Kulturinitiative vermarktet.


Mehr als „nur“ ein superreicher Künstler

Um es klar zu sagen: Kunst ist niemals unpolitisch – insbesondere während eines Krieges. Tatsächlich ist Gergiev mehr als nur ein Künstler. Er ist eine Person mit einer politischen Funktion, die einem Regime dient, das international wegen Kriegsverbrechen angeklagt ist. Seine Rückkehr auf die europäische Bühne ist keine neutrale kulturelle Geste – sie ist ein politischer Akt. 

Hinzu kommt noch eine weitere unangenehme Tatsache: Gergiev besitzt in Italien ein Immobilienimperium, dessen Wert auf mehr als 100 Millionen Euro geschätzt wird. Laut russischen Oppositionellen – darunter der 2024 in einer russischen Strafkolonie ermordete Alexei Navalny – erbte Gergiev diese Immobilien von Gräfin Yoko Nagae Ceschina, einer japanischen Harfenistin und Philanthropin, Witwe von Graf Renzo Ceschina, einem Lieferanten der italienischen Armee in beiden Weltkriegen.

Sie machte Gergiev in ihrem Testament zum Erben und vermachte ihm den Barbarigo-Palast am Canal Grande in Venedig, das historische Caffè Quadri auf der Piazza San Marco, eine Villa mit 18 Zimmern in Olgiate, ausgedehnte Ländereien in der Romagna und eine Villa an der Küste von Sorrent. [2] Kürzlich verlängerte die berühmte italienische Restaurantfamilie Alajmo ihren Mietvertrag für das Caffè Quadri – und zahlt Gergiev dafür 3,5 Millionen Euro über sieben Jahre. [3] Das bedeutet, dass eine vom Kreml sanktionierte Persönlichkeit direkt von Italiens prestigeträchtigsten öffentlichen Räumen profitiert.

Nawalnys Rechercheteam will außerdem herausgefunden haben, dass Gergiev die niederländische Staatsbürgerschaft besitzt (was in den Niederlanden für einen russischen Staatsbürger eigentlich illegal wäre). [4] In einer Antwort auf eine diesbezügliche parlamentarische Anfrage weigerte sich der niederländische Außenminister Wopke Hoekstra im Jahr 2022, diese Information zu bestätigen – er wies diese Behauptung aber auch nicht zurück. [5]

Jeder Versuch, Gergievs Präsenz zu „normalisieren”, macht dies noch beunruhigender. Im Jahr 2022 strich ihn die Mailänder Scala ihn aus ihrem Programm, nachdem er sich geweigert hatte, den Krieg in der Ukraine zu verurteilen. Und nun – nach drei Jahren Völkermord, Raketenangriffen auf Wohngebäude, Folter und Hinrichtungen von Gefangenen sowie Massengräueln, die von internationalen Gremien dokumentiert wurden – wird dieses Konzert in Kampanien Teil eines umfassenderen Trends: der Normalisierung von Brutalität durch Kultur.


Ein Signal der Kapitulation

In einem Hof des Schlosses von Caserta nahe Neapel soll Valery Gergiev demnächst dirigieren. Bezahlt wird as auch von den europäischen Steuerzahlern © Stephan Burianek

Ja, in Friedenszeiten könnte man für eine „Trennung von Kunst und Politik“ plädieren. Aber in Kriegszeiten – insbesondere in einem Eroberungskrieg, der 2014 begonnen und 2022 zu einer vollständigen Invasion eskaliert ist – wird eine solche Neutralität zu Mittäterschaft. Persönlichkeiten wie Gergiev, dessen Regime Städte bombardiert, Kinder deportiert und Dissidenten inhaftiert, auf öffentlich finanzierten Bühnen auftreten zu lassen, ist nicht nur taktlos. Es ist ein ethisches Versagen.

Hier geht es nicht nur um ein Konzert. Es geht um Symbolik. Theater, Festivals und Paläste sind nicht nur Veranstaltungsorte – sie sind Arenen der Bedeutung, und sie können entweder die Menschenwürde wahren oder autoritäre Gewalt schönreden. Gergievs Anwesenheit in Italien – finanziert aus EU-Mitteln – ist eine beschämende Konzession an die Soft-Power-Propaganda eines Terrorstaats.

Gergiev nach Kampanien einzuladen – mit europäischen Geldern – ist eine gefährliche Beschwichtigung der kulturellen Offensive Russlands, die darauf abzielt, die Grenze zwischen Kunst und Propaganda zu verwischen. Wie die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Pina Picierno, zu Recht feststellte, ist die öffentliche Finanzierung von Putins Verbündeten inakzeptabel. [6] Sie sendet das falsche Signal – ein Signal der Kapitulation.

Und tatsächlich feiern die russischen Staatsmedien das Konzert bereits als Gergievs triumphale „Rückkehr nach Europa“. Wieder einmal wird Kultur als Waffe eingesetzt. Seit der Sowjetzeit sind Musik, Ballett und Kunst wichtige Instrumente der Kreml-Propaganda. Der KGB hatte ganze Abteilungen, die sich darauf konzentrierten, das Image des Regimes durch Kultur zu formen. Ein Ziel solcher Propagandabemühungen ist es, den nationalen Zusammenhalt der russischen Bürger zu stärken. In diesem Zusammenhang bedeutet die Unterstützung von Gergievs Engagement in Europa eine Stärkung des russischen Regimes. 

Hier geht es nicht um Meinungsfreiheit. Es geht um Verantwortung. Kunst kann entweder den Humanismus unterstützen – oder Gewalt beschönigen. Wenn Gergiev in Kriegsgebieten oder imperialen Ruinen dirigiert, schwingt er nicht nur den Taktstock. Er legitimiert staatlichen Terror. Welche Botschaft sendet Italien, wenn es die Ukraine politisch unterstützt, aber Kreml-Propagandisten kulturell willkommen heißt?

Kulturelle Sanktionen – einschließlich Visumsverweigerungen und Bühnenverboten – sind friedliche und notwendige Mittel des Widerstands. Kunst ist mächtig. Aber mit dieser Macht geht eine moralische Verpflichtung einher: diejenigen nicht zu legitimieren, die Freiheit unterdrücken und Leben zerstören.

Diejenigen, die behaupten, „Kunst steht über der Politik“, müssen sich fragen: Über wessen Politik? Über den Menschenrechten? Der Demokratie? Der Solidarität? Das ist keine Neutralität – das ist bequeme Amoralität. Wenn Sanktionen zu den wenigen friedlichen Druckmitteln gehören, die uns noch bleiben, wird jeder kulturelle Kompromiss zu einer Form der Mittäterschaft. Und am Ende sind es – wie immer – die Unschuldigen, die den Preis dafür zahlen.

 

Katia Margolis, 1973 in Moskau geboren, ist bildende Künstlerin, Schriftstellerin, Professorin und öffentliche Intellektuelle. Sie lebt und arbeitet in Venedig.

Übersetzung von Stephan Burianek mithilfe des online-Übersetzungsprogramms DeepL.

Die englische Originalversion finden Sie unter diesem Link.

 

Quellen

[1] Rätselhafter Tod in Russland: Ballett-Tänzer und Kreml-Kritiker fällt vom Balkon. – Von: Christoph Gschoßmann, Frankfurter Rundschau, 20.11.2024 // https://www.fr.de/politik/raetselhafter-tod-in-russland-ballett-taenzer-und-kreml-kritiker-faellt-vom-balkon-zr-93418588.html

[2] Il tesoro «nascosto». La contessa che regalò Venezia a Gergiev, l’amico di Putin. – Von: Luciano Ferraro, Corriere della Sera, 17.05.2022 // https://www.corriere.it/sette/esteri/22_maggio_17/tesoro-nascosto-contessa-che-regalo-venezia-gergiev-l-amico-putin-7c457640-d13b-11ec-b465-8b7c23727ee0.shtml

[3] Alajamo, la famiglia di ristoratori resta al Caffè Quadri di Venezia: maxi affitto milionario al russo Gergiev, fedelissimo di Putin. – Von: Andrea Giacobino, Affaritaliani.it, 21.05.2025 // https://www.affaritaliani.it/economia/alajmo-caffe-quadri-venezia-gergiev-putin-mosca-ristorazione-970458.html

[4] Дирижёр путинской войны (Der Dirigent von Putins Krieg) – Video von Alexei Nawalny mit englischen Untertiteln, 12.04.2022 // https://www.youtube.com/watch?v=g9BOyC37JGU

[5] Valery Gergiev Does Not Qualify for European Sanctions. – Von: Francisco Salazar, operawire.com, 22.06.2022 // https://operawire.com/valery-gergiev-does-not-qualify-for-european-sanctions

[6] Picierno: «Gergiev è un ambasciatore della propaganda di Putin, De Luca non lo faccia esibire a Caserta». – Von: Cristina Liguori, Corriere del Mezzogiorno, 06.07.2025 // https://napoli.corriere.it/notizie/cronaca/25_luglio_06/picierno-gergiev-e-un-ambasciatore-della-propaganda-di-putin-de-luca-non-lo-faccia-esibire-6a9bc9df-1523-4143-b8dc-8d1e48bd7xlk.shtml

 

Zum Thema

FAZ
Kriegsdirigent. Nawalnyj über Gergiev. Ein Kommentar von Kerstin Holm.
– In: FAZ, 20.04.2022 // https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/nawalnyj-recherche-ueber-valery-gergiev-dirigent-von-putins-krieg-17967905.html 


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OPERAWIRE
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