Olha-Kobyljanska-Theater, Czernowitz

Oper als Überlebensform

In der Westukraine ist mit Dmytro Bortnianskyis «Creonte» eine fast 250 Jahre vergessen geglaubte Oper wieder zur Aufführung gekommen – ein politisches Ereignis

Willi Patzelt • 08. Oktober 2025


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Das Olha-Kobyljanska-Stadttheater von 1905 atmet noch den Geist der Habsburger Zeit © Willi Patzelt

Es ist das ukrainische Kultur-Event des Jahres, und es geht weit über die Bedeutung von Dmytro Bortnianskyis erster, 1776 in Venedig uraufgeführter Oper hinaus: Seit fast 12 Jahren führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, seit dem 24. Februar 2022 in besonders brutaler und verbrecherischer Form. Krieg, so der preußische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz (1780-1831) in seinem oft zitierten Standardwerk „Vom Kriege“, ist aber nichts anderes als die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln. 


Moralische Potenzen

Der Satz klingt nüchtern, und man übersieht leicht, wie viel in ihm steckt und wie wenig davon in diesen Tagen bloß Theorie ist. Denn in der Ukraine tobt ein Krieg, der nicht nur Territorien, sondern Bedeutungen verwüsten will. Russland führt ihn nicht allein gegen die ukrainische Bevölkerung, sondern gegen ihr kulturelles Erbe: gegen Sprache, Erinnerung, Geschichte – und damit gegen die Grundlagen jener „moralischen Potenzen“, wie Clausewitz sie als Gegenbegriff zu „physischen Potenzen“ nennt: Der Geist der Truppe, der Wille der Nation, die Bildung ihrer Bürger entscheiden schließlich auch über Sieg oder Niederlage. Damit ist Kultur für ihn keine Zierde, sondern auch Kriegsfaktor. Sie formt den moralischen Untergrund, auf dem ein Gemeinwesen überhaupt handlungsfähig wird. 

Dass nun in der Stadt Czernowitz (ukrainisch: Tscherniwzi), die schon viele Identitäten in sich trug, eine Oper wie «Creonte» auf die Bühne gelangt, zeigt sich vor diesem Hintergrund weniger als beiläufige Randnotiz, als es der erste Blick meinen könnte. In Wahrheit erlebt man hier ein Ereignis von seltener Dichte. Denn es zeigt sich klar, wie eng Krieg und Kultur miteinander verflochten sind: Der eine zerstört, was die andere zusammenhält. 

Und dass es sich hierbei auch um ein für Westeuropa wichtiges Kulturereignis handelt, weil dessen Implikationen hier ebenso gelten, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass eine ursprünglich geplante Reise zur Premiere am 3. Oktober durch – aller Wahrscheinlichkeit nach – russische Drohnen über dem Münchner Flughafen am Abend des 2. Oktobers verunmöglicht wurde. So gelang es erst zur zweiten Aufführung am 5. Oktober, in die Ukraine zu reisen.


Eine Stadt mit vielen Spiegeln

Das westukrainische Czernowitz, weiland auch „Klein Wien“ oder „Jerusalem am Pruth“ genannt, liegt weitab von den Frontlinien, aber mitten im geistigen Brennpunkt dieses Krieges. Und doch sind auch hier schon russische Raketen eingeschlagen und haben Menschenleben gekostet. Die Stadt, Glanzstück der Bukowina und einst Paradebeispiel habsburgischer Urbanität, war über Jahrhunderte hinweg ein Ort, an dem Sprachen, Religionen und Imperien aufeinandertrafen, ohne sich völlig zu vernichten. Fünf Operntruppen und zehn Zeitungen: Czernowitz war eine Stadt im Überfluss des Geistes. Man sprach Deutsch und Rumänisch, Polnisch, Armenisch, Jiddisch und Ruthenisch, ein Vorläufer des Ukrainischen – und all das war selbstverständlich. Die Vielsprachigkeit war kein Symptom der Zersplitterung, sondern Ausdruck von Bildung, Toleranz und Weltläufigkeit.

Heute, da die Ukraine wieder um ihre kulturelle Existenz ringt, erscheint Czernowitz wie ein Gegenentwurf zu jener imperialen Monokultur, die man aus Moskau Teilen Europas aufzuzwingen versucht. Hier, wo Franz Joseph I. 1875 eine deutschsprachige Universität gründete, Joseph Schmidt im Kindesalter als Chasan im Israelitischen Tempel sang und Paul Celan in einer Mischung aus Deutsch und Verzweiflung zu dichten begann, wird spürbar, dass Kultur nicht Ornament, sondern Überlebensform ist.

Das zeigt auch das Olha-Kobyljanska-Stadttheater. Das Haus, 1905 als baugleiches Pendant zum Stadttheater Fürth eröffnet und vom Wiener Architekturbüro Fellner & Helmer errichtet, atmet noch den Geist der Habsburger Zeit: ein kleiner, hell getünchter Bruder des Wiener Volkstheaters, mitten in einer Stadt, deren Straßen heute Namen wie Schewtschenko oder Kobyljanska tragen – Zeugen einer ukrainischen Selbstvergewisserung, die über Jahrhunderte hinweg erkämpft werden musste.

 

Die Inszenierung beinhaltete ein griechisches Theater und menschlich verkörperte Statuen – die Gegenwart drängte sich ohnehin auf © Serhiy Bohun

Dimitri Bortnianskyi – ein ukrainischer (!) Opernkomponist

Und außerdem dürfte man in jenem Opernhaus architektonisch und akustisch wohl relativ nah an jenes Erlebnis kommen, welches die Venezianer bei der Premiere von Bortnianskyis «Creonte» im heute nicht mehr bestehenden Teatro San Benedetto im Jahr 1776 hatten. Seit der Spielzeit 1776/1777 galt die Oper dann als verschollen, bis die ukrainische Musikwissenschaftlerin Olga Shumilina 2020 die Partitur in Lissabon in der Biblioteca da Ajuda aufspürte. Zuvor war die Partitur zwar von einem russischen Musiker ebenfalls wiederentdeckt worden, doch gelang es diesem bislang nicht, die von ihm erstellte Spielfassung zur Aufführung zu bringen. Ein im vergangenen Jahr in Wien angekündigtes Projekt durch das Orchester Wiener Akademie unter Martin Haselböck, unterstützt durch das Ukrainische Institut, ist bislang nicht realisiert worden.

Dass die Oper nach einer konzertanten Aufführung im November 2024 in Kyiw nun auch szenisch zum ersten Mal seit ihrer Wiederentdeckung in der Ukraine aufgeführt wurde, erfüllt eine weitere Sinnebene: Diese Aufführungen verweisen nun auch sehr deutlich auf den Ursprung ihres Schöpfers. Denn wer Bortnianskyi überhaupt kannte, hielt ihn als „Dimitri Bortianski“ meist für einen Russen. Doch eigentlich stammte dieser aus dem Städtchen Hluchiw, gelegen in der linksufrigen Ukraine, welches auch erst durch den Vertrag von Andrussowo am Ende des Russisch-Polnischen Krieges 1667 zum russischen Zarenreich gelangte. Als musikalisches Talent entdeckt, kam der Ukrainer als junger Mann nach St. Petersburg und wurde dort vor allem in geistlicher Musik ausgebildet. Eine große russische Opernkultur gab es zu dieser Zeit noch nicht. Wohl auch deshalb kennt man ihn heute eher durch seine Cherubim-Hymnen als durch seine italienischen Opern. In den deutschsprachigen Ländern überstrahlt sein herrlicher Chorsatz „Ich bete an die Macht der Liebe“ sein übriges Œuvre. Und speziell in Deutschland ist selbiges Kirchenlied noch regelmäßig im großen Zapfenstreich der deutschen Bundeswehr nach dem Kommando „Helm ab zum Gebet!“ durch das Musikkorps der Bundeswehr als Bläser-Fassung zu hören. 


Ein bisschen Mozart, ein bisschen Belcanto

Von jenem Höreindruck her könnte man Bortnianskyi auch gut einhundert Jahre später verorten. Sein «Creonte» hingegen klingt über weite Strecken nach wenig inspiriertem Mozart mit einem Schuss Belcanto – solide gebaut, doch ohne zwingende Handschrift. Die Partitur ist weitläufig, die dramatische Entwicklung gemächlich. Vieles bleibt musikalisch sehr an der Oberfläche, und starke Momente, die durchaus vorhanden sind, versinken in einer Fülle ziemlich gleichförmiger Nummern. Die Oper ungekürzt zu spielen, ist bei einer Wiederentdeckung zwar naheliegend, doch man spürt bald: Ein wenig Kürzung täte ihr gut. In einer dann auch gespannteren Fassung hätte dieses Werk durchaus großes Potenzial und wäre sicherlich auch für westliche Opernbühnen reizvoll.

An diesem Abend erlebt man drei Tenöre; die beiden recht groß angelegten Jünglingsrollen lassen sich schließlich heute kaum mit Kastraten besetzen. Bei zukünftigen Aufführungen täte man gut daran, diese Partien als weiblich besetzte Hosenrollen umzudeuten. Zumal keiner der drei Tenöre wirklich zu überzeugen wusste – was man indes kaum als Vorwurf verstehen darf. Viele männliche Musiker kämpfen an der Front, andere sind gefallen oder leben im Exil. Auch das gehört zur Wahrheit dieses Abends: dass selbst eine Besetzungsfrage plötzlich politische Dimension erreicht.

 

Es ist auch die Liebe zwischen Antigone und Haimon, die die Macht Kreons bricht © Serhiy Bohun

Musik und ihre Umstände

Herman Makarenko, Dirigent an der Kyjiwer Nationaloper und „UNESCO Artist for Peace“ (groteskerweise in einer Liste mit Valery Gergiev), steht vor einem Ensemble, das kaum Bühnenerfahrung besitzt – ebenso wenig wie das Präsidentenorchester im Graben, eigentlich ein Militärorchester. Doch es gelingt Makarenko ein souveräner Abend – nicht immer ganz reibungslos, und doch in Anbetracht der Umstände sehr beachtlich. Aber es geht an diesem Abend nicht primär um musikalische Leistungen, sondern um eine politische Behauptung gegen das Verstummen. Makarenko dirigiert nicht nur eine Partitur, er hält eine fragile Ordnung aufrecht – die Ordnung der Kunst inmitten des Krieges.

Denn Kunst, erzählen die Czernowitzer, helfe, sich in Zeiten tyrannischer Bedrohung nicht zu verlieren. Und genau hierzu passt Bortnianskyis «Creonte» auch inhaltlich gut. Es ist die alte Geschichte von Antigone, die sich dem Verbot Kreons widersetzt, Polyneikes zu begraben. Doch anders als bei Sophokles endet sie hier anders: Antigone nimmt sich nicht das Leben – das Volk von Theben, empört über Kreons Grausamkeit, befreit sie und erklärt sie zur Königin. Die Geschichte erklärt sich in der Ukraine 2025 von selbst.

Und doch wahrt der Abend auch Distanz: «Creonte» wird inszenatorisch nicht auf Tagespolitik gemünzt, die Gegenwart drängt sich ohnehin auf. Die Inszenierung probiert mit einem im Hintergrund angedeuteten griechischen Theater, etwas stilisierten, menschlich verkörperten Statuen und von der Decke hängenden Masken eine gewisse Zeitlosigkeit zu vermitteln und verliert dabei doch auf dem regelmäßig schmalen Grat zwischen Zeitlosigkeit und Langweiligkeit zuweilen sehr heftig das Gleichgewicht. Auch die Kostüme erinnern mitunter an Schultheater. Ziemlich sicher wird die Inszenierung nicht in die Annalen der Operngeschichte eingehen. Doch Kunst wird am Ende nicht in der Qualität ihrer Erscheinung, sondern in der Qualität ihres Daseins gemessen. 


Mehr als eine Aufführung

Und so zeigt sich an diesem Abend in Czernowitz etwas, das über Musik und Szene hinausweist: dass Kultur nicht bloß Ausdruck einer Nation ist, sondern ihre Begründung. Hier, in einem Theater, das noch den Atem vergangener Imperien trägt, wird eine Oper wieder lebendig, die fast zweieinhalb Jahrhunderte verstummt war. Dass sie nun inmitten des Krieges erklingt, wirkt nicht wie ein Zufall der Musikgeschichte, sondern wie eine Antwort auf sie – eine Wiedergewinnung von Stimme und Sinn. Ein Land, das singt, während Krieg herrscht, führt keine Nebenschlacht, sondern verteidigt das, was es zusammenhält. In den Worten von Carl von Clausewitz ist das „moralische Potenz“.


«Creonte» – Dmytro Bortnianskyi
Olha-Kobyljanska-Stadttheater, Czernowitz

 

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Aufnahme der konzertanten Erstaufführung am 11. November 2024