Michael Güttler in Moskau
Weh dem, der nicht ehrlich ist
Der deutsche Dirigent ließ über seinen Anwalt die Frage nach einem Engagement in Moskau verneinen und trat dennoch auf. Wie soll man ein solches Verhalten bewerten?
Stephan Burianek • 15. Dezember 2025
Er hat es also doch getan. Der deutsche Dirigent Michael Güttler trat am vergangenen Samstag in Moskau auf. Im Tschaikowski-Saal, in dem kürzlich die Pianistin Elisabeth Leonskaja bei kostenlosem Eintritt für russische Soldaten und ihre Familien gespielt hatte, dirigierte Güttler das Russische Nationalorchester für eine konzertante Aufführung von Wagners «Lohengrin», besetzt mit bekannten Solisten, die für ihre Treue zur russischen Führung bekannt sind. Das belegen Videos und Fotos, die uns von mehreren Personen aus dem Publikum zugespielt wurden, sowie das Programmheft, das der Redaktion ebenfalls vorliegt. Die Generaldirektorin vom Elena-Obraztsova-Förderfond, Natalia Ignatenko, der nachgesagt wird, sie berate Putin in Opernfragen, schrieb über diesen Abend auf Facebook: „Alles fügte sich auf denkbar günstigste Weise zusammen: ein Dirigent deutscher Nationalität, der den Wagner-Stil versteht – Michael Güttler. Nach seiner Konzeption waren in allen Gängen des Saales sechs Trompeter aufgestellt, die gemäß der Partitur der Oper einen räumlichen Stereo-Klang erzeugten.“
Güttlers Auftritt ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil nicht ausgeschlossen ist, dass sich der Dirigent im Vorfeld zu diesem Konzert mithilfe seines Anwalts einer Lüge bediente: Ende Mai dieses Jahres schickte OPERN∙NEWS dem Dirigenten eine E-Mail mit der Frage, ob er tatsächlich vorhabe, das besagte Konzert am 13. Dezember zu dirigieren, das bereits damals in der Aufführungsdatenbank „Operabase“ und auf der Homepage des Russischen Nationalorchesters aufschien. Dass die Homepage von OPERN∙NEWS eine Stunde nach dem Absenden der Statement-Anfrage durch einen DDoS-Angriff offline ging, war bestimmt nur ein Zufall. Eigenartiger wirkte schon die Tatsache, dass der Operabase-Eintrag tags darauf einfach verschwand. Am 3. Juni, dem Tag der Fristsetzung, kam die Antwort durch Güttlers Anwalt Stefan Wieser (Kanzlei Dr. Flügler & Partner):
Mein Mandant Herr Güttler hat mir Ihre Email vom 28. Mai zur Beantwortung vorgelegt. Ich stelle klar, dass mein Mandant keinerlei vertragliche Verpflichtungen in Russland hat, auch nicht für den von Ihnen erwähnten Moskauer "Lohengrin". Dass mein Mandant Engagements in Russland seit Februar 2022 ablehnt, ist Ihnen bekannt. Die angebliche "Information [...] in der Operabase" ist unter dem von Ihnen angegebenen Link nicht zu finden. Wäre die Information dort zu finden, wäre sie gleichwohl falsch. Gleiches gilt für die Webseite des Veranstalters. Ich darf Sie höflich auffordern, von der öffentlichen Verbreitung von meinen Mandanten betreffenden Falschinformationen abzusehen.
Über die Gründe für ein solches Verhalten darf spekuliert werden. Zum Zeitpunkt der Anfrage befand sich der Dirigent in Rechtsstreitigkeiten sowohl mit OPERN∙NEWS als auch mit ukrainischen Aktivisten, in denen es vorrangig um den Grad seiner Beziehungen zu Russland ging. Hatte Güttler womöglich Bedenken, dass sein Moskauer Engagement die noch ausstehenden Gerichtsurteile negativ beeinflussen könnten?
Tatsächlich entschied später das Landgericht Stuttgart in Güttlers zweiter Klage in drei von vier Punkten gegen OPERN∙NEWS. Güttler profitierte zudem von einer wundersamen Arbeitsverweigerung unseres Anwalts, die eine Berufung – und somit eine Beurteilung des Falles vor einem höheren Gericht – unmöglich machte.
Kein unbeschriebenes Blatt
Zu diesem Zeitpunkt hatte die zuständige Kammer des Landgerichts immerhin festgestellt, dass es korrekt war zu schreiben, Güttler und seine Frau Alesia Shapovalova hätten in den Sozialen Medien Kommentare veröffentlicht, die im Einklang mit der russischen Propaganda standen und die teilweise nicht mehr öffentlich abrufbar seien. Auch dürfen wir schreiben, dass Alesia Shapovalova, die ihre freundschaftliche Verbindung zu Anna Netrebko (und umgekehrt) immer wieder öffentlich zur Schau gestellt hat, im Jahr 2014 Russlands Annexion der Krim bejubelte. Trotzdem frohlockte Güttler am 13. Juni 2023 auf Facebook über seinen Erfolg bei Gericht, obwohl zwei wichtige Punkte an OPERN∙NEWS gegangen waren:
Und erneut gibt es einen Beschluss [...] gegen einen Journalisten, der den Unterschied zwischen substanzloser Verleumdung und wahrheitswidrigen Behauptungen einerseits und der Meinungs- und Pressefreiheit andererseits auf die für ihn kostenintensive und „harte Tour“ kennenlernt. ;-) An vermittelnden Angeboten hat es von unserer Seite nicht gefehlt. Er wollte es wissen. Jetzt weiß er es. [...] Erinnert an einen gewissen Typus Stubenfliege, der nicht begreifen will, daß das geschlossene Fenster nicht durchflogen werden kann...
Im zitierten Thread, der auf Facebook immer noch öffentlich auffindbar ist, postete Güttler sogar einen Auszug aus dem Urteil, in dem die uns untersagten Passagen interessanterweise aufgelistet werden. Die verlorenen Punkte sind darin freilich nicht zu finden. Zu den „vermittelnden Angeboten“ sei festgehalten, dass OPERN∙NEWS dem Dirigenten nach einem Text von Martin Kienzl, gegen den Güttler verbal Sturm lief, ein Interview angeboten hatte, um seine Sicht der Dinge darzulegen. Statt eines Interviews gab es den ersten von mehreren Anwaltsbriefen, und in zwei reichweitenstarken Online-Amateurmagazinen erschien ein Pamphlet Güttlers, das einfach übernommen worden war, ohne der Redaktion von OPERN∙NEWS die Möglichkeit einer Stellungnahme einzuräumen.
Wie auch immer: Dass Güttler in den Fokus von ukrainischen Aktivisten geraten ist, erscheint anhand seiner leidenschaftlich-streitbaren Aktivität in den Sozialen Medien, in die er ungemein viel Zeit und Energie investiert haben muss, wenig verwunderlich. Abgesehen vom regelmäßigen Schlagabtausch mit den Aktivisten fiel er auch in vermeintlich unbedeutenden Kanälen mit wunderlichen Kommentaren auf. So beteiligte er sich – für eine Person des öffentlichen Interesses bemerkenswert genug – im April 2024 an einer niveaulos geführten Diskussion über die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg, die zweifellos ein Kriegsverbrechen war, und antwortete auf die wohl rhetorische Frage einer Userin, wer denn den Krieg angefangen hatte, mit „Great Britain declared war on Germany on 3rd September 1939. Didn’t they?“ – was als Schuldzuweisung an Großbritannien interpretiert werden kann, für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verantwortlich zu sein – gleich so, als wäre der Kriegserklärung kein deutscher Überfall auf Polen vorausgegangen.
Ein streibares Talent
Solche Auffälligkeiten sind freilich schade, denn Michael Güttler war bereits früh ein aufstrebendes Talent gewesen. In seiner Zeit am Stadttheater Klagenfurt galt er als jüngster Chefdirigent Österreichs – bis er vom Intendanten Dietmar Pflegerl fristlos entlassen wurde. Der damalige Kärntner Landeshauptmann und FPÖ-Parteichef Jörg Haider setzte sich damals vergeblich für den Burschen ein. Wenige Monate später wurde Güttler dann Assistent von Valery Gergiev, laut einer bei Gericht eingebrachten Eidesstattlichen Erklärung für lediglich „etwa drei Monate“. Demgegenüber sagte Mikhail Agrest als Zeuge vor Gericht aus, er sei ebenso wie Michael Güttler jahrelang Gergievs Assistent gewesen. Ob die Bezeichnung „Assistent“ für die regelmäßige Zusammenarbeit mit dem Mariinsky-Intendanten Gergiev nun zutrifft oder nicht: In einem gönnerhaften Portrait über den Dirigenten schrieb Volker Milch im Wiesbadener Kurier, Güttler sei „17 Jahre lang ständiger Gastdirigent in St. Petersburg und als Chefdirigent in Jekaterinburg am Ural engagiert“ gewesen.
In jener Zeit dirigierte Güttler u.a. auch häufig an der Wiener Staatsoper. Laut des Aufführungsarchivs des Opernhauses stand er bis Ende 2020 immerhin 79-mal an der Wiener Ringstraße im Orchestergraben. Das betrifft ausschließlich Repertoire- bzw. Folgevorstellungen, einmal sprang er kurzfristig für seinen ehemaligen Chef Valery Gergiev ein.
Diese Zeiten scheinen vorbei. Vor zwei Jahren wurde er in Wiesbaden zwar als nächster Generalmusikdirektor gehandelt, wurde letztlich aber nicht mit der Stelle betraut. Die Anzahl von Güttlers Auftritten blieb seither überschaubar.
Ein glaubwürdiger Spagat?
In westlichen Medien und auch vor Gericht gibt sich Güttler – ungeachtet der bereits erwähnten Social-Media-Postings – der Ukraine gegenüber immer wieder freundlich. Volker Milch schrieb über ein Interview mit Güttler im Wiesbadener: „Seit dem 24. Februar 2022, dem Tag des Überfalls auf die Ukraine, war Güttler aber nicht mehr in Russland: ‚Das geht nicht. Ich kann das nicht.‘ Es könne ja kein Zweifel daran bestehen, dass das Land der Aggressor ist. [...] Die Russen, die ihren Überfall mit dem ‚vollkommen verlogenen Narrativ der Befreiung vom Faschismus‘ begründet haben, müssten die Angst ihrer Nachbarn verstehen.“
Ob das der Moskauer Veranstalter wusste? Immerhin wird das Russische Nationalorchester vom Kulturministerium finanziert, und es wurde erst im vergangenen September per Anordnung von Putin mit einem Dankesbrief bedacht, der auf der Homepage des Orchesters zu finden ist und der üblicherweise an Institutionen geht, die den offiziellen Auftrag der Verbreitung der „großen russischen Kultur“ erfüllen. Auch die Solisten Dmitry Korchak und Evgeny Nikitin, die in besagtem Konzert auftraten, sind für ihre Unterstützung des Regimes einschlägig bekannt.
Am Tag seines Moskauer Auftritts teilte Güttler öffentlich die Meldung von der bevorstehenden Freilassung von politischen Gefangenen in Belarus und bezeichnete sie als „Gute Nachrichten!“. Absurder Weise gab er dabei an, sich an der Mailänder Scala zu befinden (siehe Screenshot). Außerdem ist Güttlers Biografie im russischsprachigen Homepage-Bereich des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg zu finden – nachdem die englischsprachige Version, die wir vor Gericht nachweisen konnten, im Laufe des Prozesses verschwand. Ob sich Güttlers wunderliches Verhalten unter den westlichen Intendanten bereits herumgesprochen hat? Wer heute in der Datenbank Operabase nach seinem Namen sucht, der findet „Keine bevorstehenden Aufführungen“.
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