Gluck Festspiele

Mehr Gluck!

Das nordbayerische Regionenfestival zur Feier des Komponisten Christoph W. Gluck ist im Bayreuther Markgräflichen Opernhaus mit Jubel gestartet. Einen kleinen Skandal gab es auch

Stephan Burianek • 14. Mai 2024


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Pater Anselm Grün hielt eine bemerkenswerte Eröffnungsrede © Beth Chalmers

Nicht alle Menschen studieren das Programm bevor sie in eine Vorstellung gehen, wie dieses mitgehörte Dramolett zeigt, das sich am Eröffnungsabend der diesjährigen Gluck-Festspiele im Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth zugetragen hat: „Ist das ein Pfarrer?“ – „Nein, ein Mönch“ – „Aber wer ist das?“ – „Keine Ahnung, er hat sich ja nicht vorgestellt.“

Offenbar kennt nicht jeder Anselm Grün, den Benediktiner-Pater, dessen Bücher sich millionenfach verkaufen und der regelmäßig bei diversen Veranstaltungen als hochdotierter Redner gebucht wird. Und offenbar hört nicht jeder gerne zu, wenn ein Pater in seiner Eröffnungsrede von einer kanzelähnlichen Proszeniumsloge über das diesjährige Festspielmotto „Die Menschlichkeit der Mächtigen“ spricht und sich dabei u.a. für die Milde als Instrument für Führungskräfte ausspricht. Lautes Husten ebenso wie provokantes Klatschen als Versuch, einen Abbruch der Rede zu erzwingen, sowie ärgerliche Zwischenrufe und Fußgetrampel – der erschreckend offene Protest einiger Besucher kann wohl als ein Indiz für eine zunehmende Verrohung unserer Gesellschaft gewertet werden, in der nicht mehr zugehört wird und in der man seine unnachgiebige Meinung respektlos und mit einer gewissen Aggression ungefragt in ein Plenum wirft.

Vielleicht fühlte sich mancher Störenfried persönlich angesprochen. Grün sprach in seiner zwanzigminütigen Eröffnungsrede, die in der OPE[R]NTHEK nachzulesen ist, von „Machtmenschen, die in ihrer Macht über Leichen gehen“ und über „Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen“, die „andere klein machen, um an ihre eigene Größe glauben zu können“ und die sich mit „Bewunderungszwergen“ umgeben. Zugleich verwies er auf die „positive Bedeutung“ von Macht, denn „Macht bedeutet nicht, andere zu unterdrücken, sondern dem Leben zu dienen und das gemeinsame Leben in der Gesellschaft zu schützen“. Schließlich habe „nur ein Land, in dem sich die Menschen verbunden fühlen, heute eine Chance zu überleben. Gesellschaften, die sich spalten, haben keine Zukunft.“ Die negativen Reaktionen aus Teilen des Publikums zeigten, dass Anselm Grün mit seiner Einschätzung einige Nägel auf ihren Köpfen getroffen hatte.

Die konzertante Aufführung von Glucks «La clemenza di Tito» fand im vielleicht schönsten Bühnenbild der Welt statt © Beth Chalmers

Was das alles mit dem Komponisten Christoph W. Gluck zu tun hat? Der Dirigent und Intendant der relativ neu aufgestellten, alle zwei Jahre stattfindenden Gluck-Festspiele, Michael Hofstetter, sieht in dem oberpfälzischen Komponisten eine humanistische Geistesgröße, welche sich auch in seiner Musik manifestiere. Gluck zeige „den Menschen in der Komplexität seiner Seelentiefe“, betont Hofstetter immer wieder. Das treffe nicht nur auf seine fünf berühmten „Reformopern“ zu, sondern zeige sich auch in seinem früheren Schaffen. Gluck sei ein „Gigant“, der uns bis heute einiges zu sagen hätte. Daher appelliert Hofstetter, ihn in der fränkischen und oberpfälzischen Region auf eine Stufe mit Albrecht Dürer zu stellen. 


Die Milde im 21. Jahrhundert

Den Kern der diesjährigen Festspiele bildete eine Gegenüberstellung von der selten gezeigten Gluck-Oper «La clemenza di Tito» mit jener weltbekannten Oper von Wolfgang A. Mozart, die denselben Titel trägt. In diesem Jahr weist die Mozart’sche Version im deutschsprachigen Raum eine besonders hohe Konjunktur auf, allein in Salzburg wird sie in diesem Jahr dreimal inszeniert. Der Grund liegt in einer Zeit des Kriegs und des Erstarkens autoritärer Staatsführungen auf der Hand, die Frage nach Menschlichkeit und Milde der Herrschenden ist im 21. Jahrhundert aktuell wie eh und je.

Dass aber so ziemlich alle die Mozart-Oper spielen und niemand eine der anderen gut fünfzig Vertonungen auf ein Libretto von Pietro Metastasio, das offenbart eine gewisses Defizit an Kreativität in der Programmgestaltung. Demgegenüber zeigten die Gluck Festspiele: Mozart mag unerreicht sein, aber nicht immer ist die Fallhöhe zu seinen Vorgängern so extrem, wie allgemein angenommen wird. 

Intendant und Dirigent Michael Hofstetter beim Schlussapplaus zwischen Bruno de Sà und Vanessa Waldhart © Beth Chalmers

Auch Gluck komponierte so manchen Ohrwurm, etwa die Arie „Almen, se non poss’io“ (Wenn ich schon nicht kann), in der die Flöten mit schrillen Trillern, die an Vogellaute erinnern, die innere Anspannung von Servilia unterstreichen, die sich nach dem Brand im Kapitol um ihren Annio sorgt. In Bayreuth sang Robyn Allegra Parton die Servilia-Partie. Das Ensemblemitglied vom Theater Münster war Teil einer Besetzung, die sich aus feinen, jungen und gesangstechnisch beglückenden Stimmen zusammensetzte. In der schwierigen Partie der skrupellosen Vitellia lieferte Vanessa Waldhart eine bewegende Höhe und lange gehaltene, vibratolose Tönen. Den von ihr instrumentalisierten Sesto, der den Mord an Kaiser Tito ausführen soll, übernahm der gefeierte Bruno de Sá. Mit seinem natürlichen Sopran brillierte er vor allem in „Se mai senti spirarti sul volto“ (Wenn du jemals auf deinem Gesicht). Darin beschließt der verblendete Sesto, für die bösartige Vitellia zu sterben. Sie solle, so sein einziger Wunsch, bei jedem Lufthauch seiner gedenken. Auf Sestos Worte „Das sind die letzten Seufzer“ (Son questi gli estremi sospiri) komponierte Gluck, der Gigant, eine Kantilene in extrem hoher Lage, während die Streicher ihrer eigenen Melodie folgen – eine Technik, die Mozart später in der «Entführung aus dem Serail» in Konstanzes Traurigkeitsarie übernahm. Bruno de Sás natürliche Stimmkraft auch in höchsten Lagen ermöglichte an dieser Stelle eine besonders intensive Interpretation. 

Ebenfalls schön präsent und nicht zuletzt bei lange gehaltenen, vibratolosen Stellen eindrücklich war Maria Hegele in der wichtigen Partie des Annio, von Hannah-Theres Weigl hätte man indes gerne mehr gehört, als die Partie des Publio hergab. Ob dem hohen Tenor Aco Bišćević die Gluck’sche Titelpartie liegt, ist fraglich. Dass er mit seiner Stimme in selten gehörte Sphären vordringt, stellt er aktuell in einem neuen Album mit dem Titel „A Gentle Tenor“ unter Beweis, in dem er unter der Leitung von Michael Hofstetter Arien von Carl Heinrich Graun singt (Accent/Note 1). Als Gluck’scher Tito stand sein prägnanter Stimmklang in hoher Tessitura allerdings in einem seltsamen Gegensatz zur Mittellage. 

Michael Hofstetter dirigierte wie immer mit großer Leidenschaft, konnte aber nicht verhindern, dass das Barockorchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach diffus klang und mitunter behäbig wirkte. 


Mozart nach Gluck

Zwei beglückende Mozart-Sängerinnen: Francesca Lombardi Mazzulli (Vitellia) und Vero Miller (Sesto) © Beth Chalmers

Musikalisch zeigt ein Vergleich zwischen den beiden «Tito»-Opern durchaus, dass Mozart Glucks Version gekannt haben muss, immerhin ähnelt der Marsch im ersten Akt stark der Gluck’schen Vertonung, auch wenn ihn das Salzburger Genie mit Finesse und Leichtfüßigkeit veredelte. Ansonsten war ein Vergleich aus mehreren Gründen schwieriger als erhofft. Das lag nicht zuletzt an der Eliminierung fast aller Gluck-Rezitative. Sie wurden durch den Sprecher Thorsten Danner ersetzt, der zwischen den Arien mit wenigen Sätzen die Handlung erklärte. Das war durchaus kurzweilig und unterhaltsam: „Wenn Sie genau hinhören, dann werden Sie vielleicht das Knurren der Löwenmägen hören“, machte er gegen Ende, kurz vor Sestos geplanter Hinrichtung im Amphitheater, neugierig. Aber einen direkten Vergleich machte das natürlich schwierig, zumal der Gluck-«Tito» im Gegensatz zu Mozarts Pendant außerdem konzertant aufgeführt wurde. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn Konzerte werden im Markgräflichen Opernhaus in einer üppig-barocken, vor wenigen Jahren rekonstruierten Kulissenbühne aufgeführt – und somit im vielleicht schönsten Bühnenbild der Welt.

Mit dieser Kulissenpracht konnte zwei Tage später das simple Bühnenbild einer librettogetreuen Inszenierung von Mozarts «La clemenza di Tito» des Tyla-Theaters aus Pilsen freilich nicht mithalten. Davon abgesehen war die Produktion eine runde Sache: Das Pilsener Orchester, wieder dirigiert von Michael Hofstetter, klang mehr klassisch als historisch informiert, agierte aber in allen Momenten sicher und klar. Die Sänger waren ebenfalls von einem anderen Schlag, kamen aus einer hochklassischen Gesangstradition und mit breitem Stimmklang – allen voran Francesca Lombardi Mazzulli als stimmlich wie darstellerisch überragende Vitellia. An ihrer Seite sang Vero Miller vom Mainfranken Theater Würzburg den Sesto mit einer überzeugenden Intensität und zunehmender Sicherheit – gut möglich, dass man von ihr in Zukunft häufiger lesen wird. Der Südafrikaner Khanyiso Gwenxane vom Musiktheater im Revier (Gelsenkirchen) verfügt über eine ungemein dunkle, autoritäre Tenorstimme, die ideal zu Kaiser Tito passte. Die großgewachsene Barbora de Nunes-Cambraia war ein erstklassiger Annio. Schade war nur, dass Servilia bei Mozart nur wenig zu singen hat (im ursprünglichen Metastasio-Libretto waren es noch drei Arien), denn von der kurzfristig eingesprungenen Akiho Tsujii vom Theater Chemnitz hätte man gerne mehr gehört, so einfühlsam und eindringlich sang sie ihre einzige Arie „S’altro che lagrime“. 


Mehr Gluck

Der Countertenor Valer Sabadus sang Arien von Händel und Gluck © Beth Chalmers

Dass Christoph W. Gluck den Vergleich mit einer anderen Größe in der Operngeschichte, nämlich mit Georg Friedrich Händel ebenso wenig zu scheuen hat, stellte zwischen den beiden Opernaufführungen der von Michael Hofstetter seit jungen Jahren geförderte, höchst erfolgreiche Countertenor Valer Sabadus unter Beweis: Eine Hälfte gehörte Händel, die zweite gehörte Gluck. Dass der abschließende Höhepunkt eine überwältigende Interpretation von „Ombra mai fu“ aus Händels Feder und seiner Oper «Xerse» war…nun ja, dieser Punkt ging an den Wahlengländer.

Noch bis zum 18. Mai finden in den nordbayerischen Orten Castell, Lehrberg, Fürth und Nürnberg Konzerte statt – darunter das stimmungsvolle Programm „Time Stands Still“ mit Laute, Cembalo, einem Tänzer und mit Aco Bišćević und Hannah-Theres Weigl. Bei der Premiere in der Bayreuther Schlosskirche schien das Publikum kollektiv den Atem anzuhalten, so ergriffen war es von der Interpretation von Werken u.a. von Dowland, Purcell, Caccini oder Rossi. Es ist natürlich gut, Gluck in einen Kontext zu anderen Komponisten zu setzen, aber ein einziges Werk aus seiner Feder erscheint dann doch zu wenig, möchte man Gluck als Giganten der Region aufbauen. 

Unabhängig davon steht mit dieser Festspiel-Ausgabe fest: Im Gegensatz zu den meisten anderen Musiktheater-Festivals liefern die Gluck Festspiele nicht nur wunderbare Kantilenen. Sie haben auch etwas zu sagen, man muss nur zuhören können. Weiter so!

 

Die Gluck Festspiele 2024 dauern bis zum 18. Mai. // https://gluck-festspiele.de 

 

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