Putins Propagandakünstler
Eine Bürde für den Anstand
Der russische Bass Ildar Abdrazakov gilt wegen seiner engen Verbindungen zur Kreml-Elite bei westlichen Intendanten seit letztem Jahr als heiße Kartoffel – außer am Teatro San Carlo in Neapel, das ihn erst gestern Abend aus seinen Besetzungslisten strich
Stephan Burianek • 19. November 2024
Das Opernbusiness ist hart und mitunter nicht ganz fair. Über die seelischen Schmerzen, die manche Künstlerinnen und Künstler empfinden, wenn sie gemeinsam mit Aushängeschildern eines verbrecherischen Systems auf der Bühne stehen müssen, hat OPERN·NEWS in der Vergangenheit bereits mehrfach aufmerksam gemacht.
Kürzlich sorgte ein weiterer Fall für mediales Aufsehen: Der ukrainische Bass Alexander Tsymbaluk äußerte in einem Interview mit der italienischen Ausgabe der Huffington Post, das auch von der amerikanischen Internetseite Operawire aufgegriffen wurde, sein Unbehagen über die Tatsache, dass er in Neapel bald gemeinsam mit dem putinnahen Sänger Ildar Abdrazakov auf der Bühne stehen würde:
„Ich bin immer noch schockiert über die Entscheidung des Theaters, Ildar Abdrazakov zur «Don Carlo»-Produktion einzuladen, insbesondere angesichts seiner jüngsten Verbindungen zu Putin. Leider erfuhr ich erst nach Vertragsunterzeichnung von seiner Beteiligung an dieser Produktion. Ich habe mich lange mit meinen Lehrern über meine Teilnahme an 'Don Carlo' beraten, und sie antworteten, dass das Verbot von Auftritten russischer Sänger in europäischen Theatern von den Theatern selbst ausgehen sollte und nicht vom Selbstausschluss ukrainischer Künstler von Produktionen mit russischen Kollegen.“ [1]
Hierzu ist festzuhalten, dass es ukrainischen Sängern und Sängerinnen zumeist nicht generell um „russische“ Kollegen und Kolleginnen geht, sondern vor allem um jene, die sich allzu sehr dem russischen Diktator und seinem System anbiedern bzw. in den Sozialen Medien entsprechende Kommentare verbreiten. Tsymbaluks Reaktion ist umso verständlicher, wenn man die abenteuerliche Flucht bedenkt, die seine Frau und sein erst vier Monate altes Kind nach dem Beginn von Russlands Großer Invasion auf sich nehmen mussten, um von ihrer Heimat zu Alexander Tsymbaluk in den Westen zu gelangen. [2]
Nach seinen jüngsten Äußerungen bot das neapolitanische Opernhaus dem Ukrainer an, von seinem Vertrag zurückzutreten, was der Sänger nicht als versuchten Rauswurf verstand, wie er gegenüber OPERN·NEWS betont: „Die Zeit bis zum Probenbeginn ist bereits ziemlich knapp, und ein so kurzfristiger Sängerwechsel bedeutet für ein Theater immer einen großen Stress. Das Theater hat als Reaktion auf meine Äußerungen nachgefragt, ob ich nun komme oder nicht. Ich werde mich an den Vertrag halten und hoffe auf eine weitere Zusammenarbeit mit dem Teatro San Carlo.“
Die Aufführungsserie von Verdis «Don Carlo» ist am Teatro San Carlo im Januar geplant, im April hätte Abdrazakov im Teatro San Carlo außerdem mehrfach in der Verdi-Oper «Attila» auftreten sollen.
Am vergangenen Samstag schickte OPERN·NEWS dem Teatro San Carlo eine schriftliche Anfrage mit der Bitte um eine Beantwortung bis spätestens heute, Dienstag. Gestern veröffentlichte der italienische Verein „Liberi, Oltre le Illusioni“ einen offenen Brief mit dem übersetzten Titel „Die Bühne der Schande“, der sich u.a. auf die Recherchen von OPERN·NEWS bezieht und in dem das Teatro San Carlo sowie dessen Intendant Stéphane Lissner für das Engagement von Ildar Abdrazakov kritisiert wurde. [3] Laut seiner Homepage sieht sich der Verein als „kulturelle Bewegung und Vereinigung mit dem Ziel, die Entwicklung und Anwendung wissenschaftlicher Methoden bei der Untersuchung und Bewertung von sozialen Fragen zu fördern“.
Gestern Abend verschwand Abdrazakovs Name überraschend aus den genannten Besetzungslisten auf der Homepage des Theaters. Was war passiert? Dem Vernehmen nach zirkulierte der besagte Brief unter italienischen Mitgliedern des EU-Parlaments. Heute Nachmittag schrieb die Abgeordnete und Vizepräsidentin des EU-Parlament Pina Picierno (Partito Democratico) im Nachrichtendienst X:
„Abdrazakov ist einer der Loyalisten Wladimir Putins und wird von der Antikorruptionsstiftung #Navalny wegen seiner aktiven Unterstützung des Regimes und des Kriegsverbrechers Wladimir Putin zu den „Kriegsverursachern“ gezählt. (...) Die Stadt Neapel und die Leitung des Theaters San Carlo haben meiner Bitte - und der vieler Bürger und Verbände - entsprochen, die Teilnahme des Tenors Ilda Abdrazakov an der Opernsaison des Theaters abzusagen.“ (automatische Übersetzung) [4]
Eine diesbezügliche, weitere Anfrage an das Teatro San Carlo war zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels noch unbeantwortet und wird gegebenenfalls an dieser Stelle nachgeholt.
Rückblick & Update
Es stellt sich die Frage, weshalb das Teatro San Carlo so lange an dem russischen Sänger festhalten wollte. Immerhin markiert der heutige Tag den tausendsten seit Beginn der Großen Invasion, und es ist viel Wasser die Moskwa hinunter geflossen, seitdem OPERN·NEWS im Februar 2023 erstmals auf die extreme Nähe des russischen Sängers zum innersten Kreis der Putin-Partei „Einiges Russland“ aufmerksam gemacht hat. Der Exklusivkünstler der Deutschen Grammophon war zu diesem Zeitpunkt im Westen gut gebucht, das änderte sich mehr oder weniger schlagartig: Nachdem unsere Recherchen im Internet global viral gegangen und sogar von der renommierten US-Zeitung The Boston Globe aufgegriffen worden war, zog sich Abdrazakov offiziell von sämtlichen Engagements in den USA zurück.
Die europäischen Opernhäuser bewegten sich langsamer, aber sie bewegten sich doch: Still und heimlich verschwand Abdrazakov zunächst aus den Besetzungslisten der Mailänder Scala und dann – nach einem BR-Klassik-Artikel von Peter Jungblut, der ebenfalls Bezug auf OPERN·NEWS nahm [5] – auch von der Bayerischen Staatsoper in München, wo der Sänger übrigens durch jenen Alexander Tsymbalyuk ersetzt wurde, mit dem er im kommenden Januar in Neapel gemeinsam auf der Bühne hätte stehen sollen. Als letztes europäisches Opernhaus, das vorerst noch an Abdrazakov festgehalten hatte, bestätigte im Dezember 2023 schließlich auch die Wiener Staatsoper, dass es „bis auf weiteres keine Auftritte von ihm“ an der Wiener Ringstraße geben werde – übrigens erst, nachdem OPERN·NEWS von einem Video berichtet hatte, in dem der Sänger für die „Wiederwahl“ von Wladimir Putin als Russlands Führer eingetreten war.
Seither tritt der russische Bass vorrangig in Russland in Erscheinung, wo er ein vom Kreml und kremlnahen Unternehmen finanziertes Talente-Festival leitet und für sein Mitwirken bei Propaganda-Veranstaltungen für zehnminütige Auftritte schon mal drei Millionen Rubel kassiert (damals etwa 46.000 Euro), wie OPERN·NEWS im vergangenen Jahr ebenfalls aufdeckte.
Im Juni dieses Jahres wurde Ildar Abdrazakov in einer feierlichen Zeremonie von Wladimir Putin als Mitglied des Präsidialrats für Kultur und Kunst in Russland ernannt. Aus diesem Anlass postete Abdrazakov in Instagram mehrere Bilder von diesem festlichen Anlass, inklusive Shakehands-Fotos mit Wladimir Putin, auf denen der Sänger freudig und sichtlich stolz zu sehen ist. [6]
Immer noch DG-Exklusivkünstler?
In den USA zog er sich auch aus Konzerten zurück, die von der Deutschen Grammophon für Aufzeichnungen vorgesehen waren, deren Exklusivkünstler er damals war – oder vielleicht sogar noch ist. Eine diesbezügliche Anfrage von OPERN·NEWS beantwortete das Musiklabel im Juli dieses Jahres nämlich äußerst vage: „Über Vertragsinhalte können wir leider keine Auskünfte erteilen“, hieß es, aber man habe derzeit immerhin „keine neuen Pläne“ mit dem Sänger. Konkreteres war auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht zu erfahren.
Es liegt auf der Hand, dass das Engagement eines Putingetreuen in der aktuellen Situation weniger eine künstlerische Entscheidung als vielmehr ein gesellschaftspolitisches Statement ist. Weshalb das Teatro San Carlo dieses Statement setzen wollte, muss hinterfragt werden. Die Leitung von italienischen Opernhäusern ist seit vielen Jahren, von der weich gebetteten Mailänder Scala abgesehen, ein budgetärer Drahtseilakt. Üben russische Geldgeber womöglich Druck auf die Direktion aus?
Globale RuZZen-Connections
Die Kraft der russischen Kulturpropaganda wird im Westen immer noch weitgehend unterschätzt. Vor drei Jahren deckte die internationale Initiative Arts Against Aggression auf, dass renommierte Kulturinstitutionen und Universitäten mit Konzertsälen beträchtliche Spenden russischer Herkunft erhalten hatten – darunter die Carnegie Hall (25 Mio. Dollar), die Harvard Medical School (200 Mio. Dollar), die Business School (60 Mio. Dollar), die Yale University (35 Mio. Dollar). Im Gegenzug fanden an diesen Institutionen immer wieder Konzerte mit Künstlern statt, die bei einer Agentur unter Vertrag waren, die direkt vom russischen Kulturministerium finanziert wird bzw. wurde. [7]
Wie viel russisches Geld in den vergangenen Jahrzehnten in die europäischen Kulturinstitutionen für das Aufführen von russischen Werken bzw. für das Engagement von russischen Künstlern und Künstlerinnen, die vom System Putin gefördert werden, geflossen ist, wäre eine interessante und notwendige Frage für eine umfassende Untersuchung bzw. ein gefördertes Forschungsprojekt. Insider sehen in dieser Praxis das Mittel einer hybriden Kriegsführung gegen den Westen.
Seit dem Beginn der Großen Invasion Russlands in der Ukraine im Jahr 2022 hat das Teatro San Carlo auffallend vielen „üblichen Verdächtigen“ seine Bühne geboten: Anna Netrebko, Dmitry Korchak, Yulia Matochkina, Vasilisa Berzhanskaya, Elena Stikhina – sie alle gelten oder galten dem Putin-System gegenüber als freundlich. [8]
Wer nach oberflächlichen Verbindungen zwischen dem Teatro San Carlo und Russland sucht, der wird rasch fündig: Die UniCredit-Bank als Hauptsponsor des Opernhauses ist neben der Raiffeisenbank die einzige westliche Bank, die derzeit immer noch in Russland tätig ist und dort zugleich als „systemrelevant“ eingestuft wird – und die vermutlich nach wie vor ihr russisches Netzwerk pflegt. Der San-Carlo-Intendant Stéphane Lissner wiederum hat enge persönliche, wiewohl unverfänglich wirkende Verbindungen zu Russland: Seine russische Großmutter, die häufig ins Moskauer Bolschoi-Theater ging, machte ihn mit russischen Opern vertraut. [9] Zudem ist Lissner in seiner vierten und aktuellen Ehe mit einer Französin russischer Herkunft verheiratet, die im März 2022 in einer französischen Radiosendung auf den ukrainischen Widerstand unter den Künstlern aufmerksam gemacht hat. [10] Das alles liefert freilich keine Angriffsfläche, dennoch bleiben die neapolitanische Besetzungspolitik und das Festhalten an ihr eigenartig.
Prominenter Abdrazakov-Unterstützer
Ildar Abdrazakov hat mehrere prominente Unterstützer, darunter die Dirigentenlegende Riccardo Muti. Trotz der internationalen Kritik an Abdrazakov hielt Muti im Dezember 2023 an dem Sänger fest, als er im Rahmen des Ravenna Festivals (das von seiner Frau geleitet wird) ein Konzert mit Abdrazakov-Beteiligung dirigierte – damals war bereits bekannt, dass Abdrazakov Putins „Wiederwahl“ zum wiederholten Mal offiziell unterstützte. Erst kürzlich im September realisierten die beiden in Japan gemeinsame Aufführungen von Verdis «Attila». Muti lobte speziell Abdrazakov im Vorfeld in einem Interview und zeigte sich in einem Instagram-Posting von Abdrazakov in herzlicher Umarmung mit dem Bass. [11]
Muti ist bei vielen Unterstützern der Ukraine kein unbeschriebenes Blatt: Im Oktober 2021 nahm er aus den Händen des streitbaren russischen Botschafters in Wien „den Mantel, die Medaille, das Diplom und das goldene Abzeichen des Ehrenmitglieds der Russischen Akademie der Künste“ entgegen, wie auf der Internetseite des Russischen Kulturinstituts bis heute zu lesen und zu sehen ist. [12] Eine Anfrage von OPERN·NEWS im Juli dieses Jahres, ob Muti daran denke, aufgrund der völker- und menschenrechtlichen Verfehlungen des Putin-Regimes ebendiese Auszeichnung zurückzulegen, ließ Mutis Management unbeantwortet.
Aus der Geschichte lernen?
Dass man ukrainischen Künstlern heute einiges abverlangt, wenn man sie mit Vertretern eines Systems auf die Bühne stellt, das gezielt ukrainische Zivilisten ermordet, dessen Kinder zu Tausenden kidnappt und „umerzieht“ und den Ukrainern und anderen Nationen schlicht ihre Existenz abspricht, liegt auf der Hand – und erinnert an eine geschichtliche Parallele: Im Jahr 1938 wurde die vor den Nazis geflüchtete jüdische Sopranistin Lotte Lehmann ohnmächtig, als sie gemeinsam mit der Nazi-Sängerin Tiana Lemnitz in einer «Rosenkavalier»-Aufführung am Opernhaus Covent Garden auf der Bühne stehen musste – die psychische Belastung war zu hoch. Als Marschallin sprang Hilde Konetzni ein, die im Publikum gesessen war und später ebenso von den Nazis auf die sogenannte „Gottbegnadeten-Liste“ gesetzt wurde wie Lemnitz (die in London den Octavian sang). Man muss sich wohl fragen, wofür das jahrzehntelange Aufarbeiten der Fälle Furtwängler, Karajan und Co. gut gewesen sein sollen, hätten sie keinerlei Konsequenzen für unser heutiges und zukünftiges Handeln.
Die andere Seite zu befragen, macht freilich wenig Sinn, denn selbst wenn Abdrazakov trotz seiner elitären Stellung innerhalb der russischen Einheitspartei und trotz seiner langjährigen und aktuellen Unterstützung des russischen Führers mittlerweile eine kritische Haltung gegenüber Putin einnehmen würde, könnte er diese derzeit nicht gefahrlos zum Ausdruck bringen. Unabhängig davon kommt ihm als Teil des Putin’schen Systems eine öffentliche und politische Funktion zu, die ihn von den meisten seiner im Westen singenden Landsleute unterscheidet – obwohl sich unter ihnen Personen befinden, die, anders als Abdrazakov, in den Sozialen Medien gelegentlich ihre Ablehnung gegenüber dem Westen zum Ausdruck bringen – jenem Westen, in dem sie ihr Geld verdienen.
Die Recherchen für diesen Artikel wurden redaktionell von der weltweiten Initiative Arts Against Aggression unterstützt.
Quellen
[1] Ukrainian Bass Alexander Tsymbaluk Speaks Out About Ildar Abdrazakov’s Inclusion at the Teatro San Carlo. - von: Francisco Salazar, Operawire, 13.11.2024 iZm Voci stridenti. Il baritono putiniano e il basso ucraino sul palco del Teatro San Carlo. – von: Tetyana Bezruchenko, Huffington Post (Italien), 12.11.2024
[2] «Культура должна отвлекать от тех безобразий, которые в мире сейчас происходят» — украинский бас Александр Цымбалюк („Kultur soll von den Greueltaten ablenken, die derzeit in der Welt passieren“ – der ukrainische Bass Alexander Tsymbaluk). – von: Andrey Shavrey, Latvijas Sabiedriskie Mediji (LSM+), 10.08.2023
[3] Offener Brief von „Liberi, Oltre le Illusioni“: Il palcoscenico della Vergogna: ospitare il "braccio destro musicale" di Putin è inaccettabile in una democrazia, 18.11.2024 iVm der Recherchesammlung Un approfondimento su Ildar Abdrazako
[4] X-Posting von Pina Picierno, 19.11.2024
[5] Darum darf er bei den Münchner Opernfestspielen singen. – von: Peter Jungblut, BR-Klassik, 16.06.2023 iVm Absage bei den Münchner Opernfestspielen. – von Peter Jungblut, BR-Klassik, 30.06.2023
[6] Instagram-Posting von Ildar Abdrazakov, 12.06.2024 iZm Ildar Abdrazakov Named Member of Russia’s Presidential Council. – von: Francisco Salazar, Operawire, 16.10.2024
[7] We warned Harvard and other U.S. institutions against allying with oligarchs and Putin’s artists. – von: Julia Khodor Beloborodov und Dmitry Smelansky, Cambridge Day, 14.03.2022
[8] Arts Against Aggression: Ten Years of War against Russian Cultural Propaganda. – von: Dmitry Smelyansky, Krytyka, April 2024
[9] «Je suis habitué aux polémiques»: Stéphane Lissner, du Teatro di San Carlo à Naples. von: David Karlin, 23.04.2021
[10] La résistance des musiciens ukrainiens. – von: Anna Sigalevitch, Radio France, 26.03.2022
[11] Instagram-Posting von Ildar Abdrazakov, 14.09.2024 iVm Riccardo Muti, un Attila eroe solitario. – von Stefano Salis, Il sole 24 ore, 31.08.2024
[12] Dirigent Riccardo Muti erhält den Mantel, die Medaille, das Diplom und das goldene Abzeichen des Ehrenmitglieds der Russischen Akademie der Künste, Russisches Kulturinstitut, 29.10.2021