Theater in der Ukraine
Zwischen vollen Häusern und Bunkern
Der Intendant Sebastian F. Schwarz verbrachte aus Anlass des 90-jährigen Bestehens des Kiyiwer Operettentheaters eine Woche in der ukrainischen Hauptstadt, wo die Theater als kollektive Orte der Verarbeitung derzeit eine wichtige Funktion erfüllen. Ein Erlebnisbericht
Sebastian F. Schwarz • 22. Dezember 2024
Letzte Nacht in Kyjiw. Seit einer Woche bin ich bereits in Kyjiw und habe in diesen Tagen schon einige Luftalarme miterlebt. Der erste unterbrach am Sonntag die Nachmittagsvorstellung von Mykola Lysenkos Oper «Natalka aus Poltava» in der ukrainischen Nationaloper. Fast hätte ich mich für diese Unterbrechung bedankt, strotzte doch die Aufführung von folkloristischem Kitsch und übertriebenem Spiel. Dazu eine eher banale Musik, eintönig daher gesungene Strophenlieder und, bis auf die Titelpartie, vor ihrer Zeit gealterte Stimmen. Um diese Aufführung war es mir nicht schade, und als der Luftalarm aufgehoben wurde, bin ich dann doch lieber essen gegangen statt den Fortgang der Oper zu erleben.
Ständige Luftalarme
Der letzte Alarm vor meiner Rückfahrt nach Wien zog sich um 06:37 Uhr in immer länger gehaltenen Sirenentönen durch den silbrig kalten Morgen. Er war der dritte in dieser Nacht. Für den ersten, um 00:38 Uhr, war ich noch mit anderen Hotelgästen in den Bunker hinab. Den zweiten, 01:47 Uhr, habe ich glatt verschlafen. Möge mein Mann mir dieses Geständnis verzeihen – ich hatte ihm vor der Reise fest versprechen müssen nichts zu riskieren und bei einsetzendem Alarm immer sogleich den nächstgelegenen Bunker aufzusuchen. Dieser dritte war jedoch nicht zu überhören. Die Sirenen und entsprechend einsetzenden Hotelansagen – zweimal auf Ukrainisch und dazwischen einmal auf Englisch – waren ein schon eingespieltes Team. Und dann das Warten.
Der immer recht zuverlässig über die konkrete Gefahr informierende Telegram-Kanal ist den Ukrainern seit knapp 34 Monaten zum ungewollt nahen Begleiter geworden. Für 06:39 Uhr zeigte er den Start einer MIG-31K mit Ziel Kyjiw an. Bis 1991 wurden 519 davon für die sowjetischen und kasachischen Streitkräfte gebaut und sind mit ihren maximal 3.000 km/h unter den schnellsten Kampfflugzeugen der Welt. Viel Zeit bleibt also nicht, wenn der Start einer solchen Maschine registriert und deren Kurs erkannt wurde. Um 07:01 Uhr hörte man den Schutzschild über der Stadt in Aktion – mit einer dumpfen und zugleich erstaunlich lauten Explosion wurde die Rakete abgefangen und ging in zwei Teilen, brennend im Nordosten Kyjiws nieder. Wohl denen, deren Hotel am aus Revolutionszeiten berühmten Maidan-Platz in unmittelbarer Nachbarschaft des Präsidentenpalastes besonders geschützt und mit eigenem Bunker ausgestattet ist. Denn die Wohngebiete am Stadtrand bieten meist nur die U-Bahnstationen als Bunker an und müssen seit den vermehrten Angriffen Moskaus auf die Hauptstadt jederzeit auf den brennenden Regen abgeschossener Raketen- oder Drohnenteile gefasst sein.
Ich war am Packen für meine nahende Abreise und daher nicht in den Bunker gegangen, und so erlebte ich das bislang nur aus dem Fernsehen bekannte Bild live mit. 07:12 Uhr, weitere Explosionen mit klirrenden Fensterscheiben und vibrierenden Hotelmauern. Diesmal wurde im südlichen Stadtteil Holosiivskyi ein Mann Opfer der über der Stadt entschärften und dennoch tödlichen russischen Waffen. Die Explosionen wiederholten sich noch ein paar Mal an diesem Morgen. Bei allem damit verbundenen Schrecken sind sie dennoch auch Zeichen einer funktionierenden Luftabwehr, welche die Hauptstadt – aber eben nur die Hauptstadt – bislang vor dem Schlimmsten zu schützen vermag.
Schon von einem Besuch im Vorjahr kannte ich diese Taktik der Russen. Ihre schlafraubenden, und dadurch auf perfide Weise zermürbenden nächtlichen Angriffe weit über die Frontlinien hinaus ins ukrainische Hinterland, wo ansonsten, tagsüber, der Alltag nahezu normal weitergeht, Menschen in die Schule und zur Arbeit gehen, sich vor dem Einzug in die Armee und der Versetzung an die Front fürchten und ihre getöteten Söhne, Brüder, Väter, Ehemänner und Kollegen beweinen. Und solche hat hier ein jeder zu beweinen, egal wie weit von der Front entfernt.
Theater in Zeiten des Krieges
Gekommen war ich nach Kyjiw, um mir anzuschauen, was in den, trotz – oder gerade wegen? – des Krieges bis zum Anschlag gefüllten Theatern an Ukrainischem dargeboten wird. Schon vor einem Jahr war ich als Jurymitglied des allukrainischen Theaterpreises zehn Tage lang mit ähnlich neugierigen Waghalsigen durch das Land gereist und hatte mir täglich bis zu vier Theateraufführungen angesehen, um dann in einem Galakonzert in Kyjiw die Preise in den einzelnen Kategorien zu vergeben. Ganz besonders interessiert hatten mich dabei die extra aus den Kriegsgebieten in den sichereren Westen gebrachten Theaterkompanien aus Charkiw, Donezk, Odessa. Was spielt man inmitten von Zerstörung und Leid? Warum spielt man und für wen? Und die Kategorie „Beste szenische Realisation eines Werkes zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine“ war dabei für die in Frieden lebenden Jurymitglieder besonders wertvoll: Wieviel Zeit muss vergehen, damit traumatisierende Ereignisse, für die Bühne bearbeitet, dramaturgisch überhöht, ihrem Publikum nicht weiteren Schaden zufügen, sondern bei der Verarbeitung des Erlebten helfen?
Damals wie heute: Die Theater sind voll, der Bedarf an Ablenkung auf der einen und am emotionalen Dampf-Ablassen auf der anderen Seite ist groß, und das Theater wird vom ukrainischen Publikum als probater Ort der Auseinandersetzung und des kollektiven Verarbeitens angenommen. Manchmal ist alles besser als mit seinem Schmerz, seiner Wut allein zu Hause zu sitzen!
Nicht erst seit der Ausweitung der russischen Angriffe auf die Ukraine 2022 fordern die ukrainischen Kulturschaffenden von ihren europäischen Kollegen, auf das Repertoire der kriegstreibenden Russen in ihren Spielzeiten zu verzichten. Das hieße, keinen Tschaikowski, keine Puschkin, Tschechow, Dostojewski mehr, keinen Rimsky-Korsakow oder gar – selbst Opfer des Stalin-Terrors – Schostakowitsch. Das ist emotional zunächst einmal nachvollziehbar: Die russische Propaganda ist laut, erklärt alles Erfolgreiche als Russisch. Selbst die gebürtigen Ukrainer Gogol und Prokofjew werden von der russischen Kulturpropaganda vereinnahmt. Ukrainische Errungenschaften, wie diejenigen anderer ehemaliger Sowjetrepubliken, wurden zuerst bis 1991 konsequent als sowjetisch vereinnahmt, dann einfach als russisch weitergeführt. Und wie sich Russland nicht erst in den letzten Jahren künstlerisches, intellektuelles Eigentum anderer einverleibt, so verfährt es heute kriegerisch-brutal mit den Territorien der Ukraine oder Georgiens und mit digitaler Kriegsführung (wie z.B. der Beeinflussung von Wahlen) in zahlreichen anderen Fällen, derer wir uns erst allmählich bewusst werden.
Wir brauchen einen Crashkurs
Auf einer Konferenz anlässlich des 90-jährigen Bestehens des Kyjiwer Operettentheaters dieser Tage war ich gebeten worden, über die Möglichkeiten eines solchen Ersetzens russischen durch ukrainisches Repertoire zu sprechen. Die Slawisten und Osteuropa-Experten mögen mir diese verallgemeinernde Behauptung verzeihen, aber ukrainische Literatur, Dramen oder Musik sind vielleicht von einigen wenigen untersucht, sie sind jedoch alles andere als „in aller Munde“.
Nichts braucht die Ukraine weniger als einen weiteren „wohlwollenden“ Ausländer, der ihnen erklärt, was sie zu tun haben. Aber vielleicht kann sie uns helfen, ihrer kulturellen Identität Raum und Gehör zu verschaffen.
Ich kenne keinen Kollegen, der sich gegen die Aufführung ukrainischen Repertoires ausspricht. Was wir brauchen – und das kann nur von unseren ukrainischen Kollegen kommen – ist ein klarer Hinweis darauf, wie die Ukraine sich international repräsentiert sehen möchte, was ihrer Meinung nach die wahren und würdigen künstlerischen Errungenschaften ihrer Kultur und ihres Landes sind, durch welche sie sich in der Welt definiert und welche in den Kanon des regelmäßig aufgeführten Repertoires aufgenommen werden könnten. Wir alle bräuchten eine Art Crashkurs in ukrainischer Literatur, Musik, Oper, Kunst, damit das Feld nicht, wie es jetzt scheint, allein einer lärmenden russischen Kulturpropaganda überlassen bleibt. Das geht zweifelsfrei besser durch eine koordinierte, maßgebliche und gewaltige Anstrengung des ukrainischen Kulturministeriums als durch eine leicht zu überhörende, schüchterne Privatinitiative – wir benötigen einen Hinweis darauf, wen sie selbst imstande sehen, nicht anstelle, sondern ebenbürtig neben so immens wichtigen Künstlern wie Tschaikowsky oder Schostakowitsch zu stehen.
Was nicht zu verstehen ist
Ich verfolge mittlerweile seit Jahren die Berichterstattung beider Seiten, will verstehen. Verstehen, wem was wie gesagt wird, eine Erklärung dafür finden, dass so viele Russen einen so offensichtlich völkerrechtswidrigen Krieg gegen das Nachbarland doch befürworten und allem geschürten Anschein nach ihrem kriegswütigen Präsidenten so sehr das Vertrauen aussprechen, dass sie ihn erst im Mai wieder mit angeblich 85 Prozent wiedergewählt haben. Ist ihnen wirklich nicht bewusst, dass eben dieser ihnen einen aller Erfahrung nach Generationen andauernden (und damit die Lebenszeit des derzeit 72-Jährigen weit überdauernden) Hass von 30 Millionen Nachbarn beschert, mit welchem er sie in absehbarer Zeit alleine lassen wird.
Seine zynische Einladung, doch an Kyjiw die westlichen Abwehrsysteme auf ihre Effizienz angesichts der russischen Oreschnik-Raketen auszuprobieren rief in meinen Gesprächen der letzten Tage selbst bei bislang eingefleischten ukrainischen Pazifisten nur den mit eisiger Wut hervorgebrachten Wunsch zutage, Moskau brennen zu sehen. Sollen doch die ihren Präsidenten noch unterstützenden Hauptstädter an eigener Haut spüren, wie es sich anfühlt, durch unprovozierte Angriffe täglich in die Bunker getrieben zu werden, ihr Land zerstört, ihre Angehörigen getötet zu sehen. Dieser, durch die Kriegsspiele des russischen Führers entfachte Hass wird über Generationen das Verhältnis zum Nachbarland bestimmen und – angesichts einer derartigen emotionalen Aufladung nicht auszuschließen – Vergeltungsschläge provozieren.
Ich schreibe dies im Zug Kyjiw-Budapest, durch die Karpaten gen Westen eilend – mit jedem Kilometer ein wenig entspannter – einer ruhigen, friedlichen Weihnacht mit der Familie in Österreich entgegen, und damit auch einem wachsenden schlechten Gewissen, ob der zurückgelassenen Freunde und Kollegen, denen eine solche Gewissheit eben nicht gegeben ist.
Sebastian F. Schwarz ist ein deutsch-österreichischer Musiker, Dozent und Kulturmanager. Seit 2021 ist er künstlerischer Leiter des Festival della Valle d’Itria und der Accademia del Belcanto. Von 2019 bis 2022 war er außerdem Sovrintendente / Direttore Artistico am Teatro Regio di Torino. Zuvor war er Generaldirektor und künstlerischer Leiter der Glyndebourne Festival Opera (2015–2018), künstlerischer Betriebsdirektor des Theaters an der Wien (2008–2016) und künstlerischer Leiter der Wiener Kammeroper (2012–2016), wo er Wiens erstes Opernstudio (JET) zur Förderung des Sänger:innen-Nachwuchses ins Leben rief. Er war Mitbegründer und ist weiterhin künstlerischer Leiter des Internationalen Gesangswettbewerbs für Barockoper Pietro Antonio Cesti, der Teil der Innsbrucker Festwochen für Alte Musik ist.
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