Interview
„In Russland leben nur wenige ‚echte‘ Russen“
In der Ukraine ist russische Musik verboten. Die krimtatarisch-stämmige Mezzosopranistin Lena Belkina erklärt, weshalb das kein extremer Nationalismus sondern eine Überlebensstrategie ist
Stephan Burianek • 15. März 2023
Ihr vielgelobtes Album „Passion for Ukraine“ ist erst im vergangenen November erschienen, dennoch arbeiten Sie bereits an einem neuen. Was nehmen Sie diesmal auf?
Es werden Vokalzyklen von Antonín Dvořák, Johannes Brahms, Maurice Ravel, Manuel de Falla und Borys Ljatoschynskyj sein. Ljatoschynskyj (1895-1968) war ein ukrainischer Komponist, den ich für ein Genie halte und der leider in Vergessenheit geraten ist. Die ukrainische Musikgesellschaft setzt sich aktuell dafür ein, dass die Kyiver Musikakademie, an der ich studiert habe, nach ihm benannt wird. Derzeit trägt sie noch den Namen von Pjotr Tschaikowski, weil ihr umstrittener Rektor immer noch daran festhält. Er meint, die vielen chinesischen Musikstudenten kämen nur wegen Tschaikowskis Namen. Aber offen gestanden halte ich es in Anbetracht der russischen Brutalität, die nun schon mehr als ein ganzes Jahr anhält, für ziemlich belanglos, ob die Chinesen den Namen gut finden oder nicht. Ich kenne keinen Ukrainer, mit dem ich früher Russisch gesprochen habe, der weiterhin Russisch spricht. Wie auch die meisten anderen Ukrainer vertrete ich mittlerweile die Meinung, dass die russische Kultur in der Ukraine nichts mehr verloren hat.
Das ist ein Punkt, der bei uns im Westen vor allen in kulturellen Kreisen auf Unverständnis stößt. Es ist doch gerade eine Stärke der Kunst, dass sie keine nationalen Grenzen kennt. Was kann außerdem Pjotr Tschaikowski dafür, dass ein Putin, dem er als homosexueller Künstler wohl negativ gegenübergestanden wäre, als zynischer und kaltblütiger Diktator auftritt?
Tschaikowski gilt nicht nur als Putins Lieblingskomponist, auch in den Jahren der Sowjetunion wurden russische Komponisten gegenüber Komponisten aus anderen Volksgruppen bevorzugt behandelt. Mit Tschaikowski verbinden wir Ukrainer die Musik der Propaganda, und wenn russische Sportler bei den vergangenen Olympischen Spielen gewonnen haben, dann wurde bei der Verleihung der Medaillen ebendieser Tschaikowski gespielt. Er ist mit dem offiziellen Russland stärker verbunden, als im Westen bekannt ist.
Auch dafür kann doch Tschaikowski nichts. Adolf Hitlers Lieblingsoperette war «Die lustige Witwe», aber der Komponist Franz Lehár hat sie nicht für Hitler geschrieben.
Tschaikowski hat sehr wohl für das offizielle Russland komponiert, immerhin hat er dem Zaren Alexander III. einen Krönungsmarsch und außerdem die russisch-patriotische „Ouvertüre 1812“ geschrieben. Lassen sie es mich aber anders versuchen: Diese Idee der Russen, dass sie eine „Übernation“ sind, hat ganz stark mit ihren Literaten und Komponisten zu tun. Im Vergleich zu Künstlern aus anderen Volksgruppen wurden sie immer bevorzugt behandelt. Man muss im Westen verstehen, dass sich die Russen uns gegenüber immer als die Herrenmenschen gefühlt haben und uns das stets haben spüren lassen. Das haben auch andere, von den Russen einstmals unterdrückte Völker so empfunden, daher ist die Solidarität, die uns diese heute entgegenbringen, derart groß. Ebenso wie diese anderen Völker haben auch die Ukrainer sehr gute Künstler hervorgebracht. Sie wurden aber von den Russen immer unterdrückt, wenn nicht sogar erschossen, und sie hatten keine Chance, sich international zu entfalten.
Erschossen? Von welchen Jahren sprechen wir da?
In erster Linie von den 1930er-Jahren. Die Lieder von Ljatoschynskyj, die ich gerade lerne, sind aus den 1920er-Jahren. Er hat überlebt, weil er dem Regime erzwungenermaßen gedient hat. Viele Künstler haben sich aber geweigert das zu tun, und die wurden alle umgebracht. In Charkiw gibt es ein Haus namens Slowo, zu Deutsch „Wort“, das bei einem Raketenangriff im vergangenen Jahr beschädigt wurde. Dort haben früher ukrainische Schriftsteller mit ihren Familien gelebt und sich dort ausgetauscht. Sie sind fast alle den Russen zum Opfer gefallen. Auch der ukrainische Komponist Mykola Leontowytsch, der vor allem in den USA für sein Weihnachtslied „Carol of the Bells“ bekannt ist, wurde von der Geheimpolizei erschossen.
Dass russische Komponisten, wie Tschaikowski, in der Ukraine heute verpönt sind, hat demnach nicht mit einer extremistischen Form von Nationalismus zu tun, sondern mehr mit der Propaganda, für die sie in der Vergangenheit eingesetzt wurden.
Zum einen wurden ukrainische Künstler unterdrückt, zum anderen wurde alles, was die Russen als gut empfanden, als „russisch“ aufgesaugt. Viele konnten nur auf Russisch arbeiten, weil die ukrainische Sprache verboten war. Es ist wichtig, dass vor allem junge Ukrainer sich das bewusst machen. Manche ukrainische Kollegen, die keine Gagen verlieren möchten, nehmen Engagements für Tschaikowski-Opern an und meinen aufgrund seiner Opern «Pantöffelchen» und «Mazeppa», er hätte eine Sympathie für die Ukraine gehabt. In Wahrheit hat er diese Werke so komponiert, dass die Ukrainer als schwach und gar nicht existenzfähig dargestellt wurden. Kurzum: Auch ich stehe einem kulturellen Austausch mit Russland kritisch gegenüber.
War das schon immer so?
Nein, ich habe mich mit meiner Identität erst vor einem Jahr zu beschäftigen begonnen, denn erst mit dem Angriff am 24. Februar 2022 wurden der Krieg und die russische Kriegsführung für alle offenkundig. Aus heutiger Sicht ist mir klar, dass wir zu viel toleriert haben. Auch davor sind in den von Russland besetzten Gebieten Menschen spurlos verschwunden, und hunderte Krimtataren sitzen seit Jahren grundlos im Gefängnis. Durch diesen – viel zu späten – Selbstfindungsprozess ist meine letzte CD „Passion for Ukraine“ entstanden, die eine Zeitreise durch die ukrainische Musik darstellt und für die ich u.a. beim ukrainischen Komponisten Illia Razumeiko das Stück „Requiem für Mariupol“ bestellt habe.
Davor haben Sie regelmäßig in Russland gesungen.
Ich hatte einen sehr großen Erfolg in Russland. Zu Beginn der Invasion im vergangenen Jahr habe ich noch auf Instagram, wo mir viele Russen gefolgt sind, versucht, diese zu überzeugen. Ich dachte mir: Selbst die gefürchtetsten Kritiker haben fantastische Rezensionen über mich geschrieben, das Publikum hat mir applaudiert, ich kann etwas bewirken. Eine Woche später hatte ich um zweitausend Follower weniger, nur weil ich in russischer Sprache versucht habe, die ukrainische Sicht auf die Invasion zu erklären.
Offenbar hatte man Sie dort als Russin wahrgenommen.
Das kann sein. Immerhin bin ich russischsprachig auf der Krim aufgewachsen, wohin ich allerdings erst im Jahr 1990 mit meiner Familie hingezogen bin. Meine Mutter ist Krimtatarin, wurde aber in der Deportation geboren – meine Großeltern waren als Tataren gezwungen worden, das Land zu verlassen und sich im Uralgebiet eine neue Existenz aufzubauen. Die Großeltern meines Vaters waren ebenfalls aus der Ukraine, aus Charkiw. Auch sie zwang man zu übersiedeln, sie wurden nach Sibirien deportiert. Meine Eltern haben sich dann in Taschkent kennengelernt, wo ich geboren wurde. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durften wir alle zurück – zuvor war den Krimtataren keine Rückkehr erlaubt gewesen. Vor 1944 war die Krim ein Vielvölkergebiet, mit einem großen Anteil an Tataren. Als wir auf die Krim zurückgekommen sind, waren wir anfangs nicht beliebt, denn die Russen haben in unseren Häusern gelebt und befürchtet, dass wir sie zurückhaben wollen würden.
Wenn Sie Menschen sagen hören, dass die Krim schon immer russisch war, dann müssen Sie wahrscheinlich lachen.
Das ist so ein Schwachsinn! In Anbetracht der Ausdehnung von Russland könnte man sogar sagen, dass in Russland insgesamt eigentlich nur relativ wenige „echte“ Russen leben. Leider betrifft diese Herrenmenschen-Mentalität nicht nur das offizielle Russland. Ich war zu Beginn des Großen Kriegs vor einem Jahr auf der Suche nach „guten“ Russen, aber ich habe sie nicht gefunden. Selbst wenn sie nett und gebildet sind, so ist meine Erfahrung, glauben sie letztlich immer, sie seien besser als die Ukrainer. Der Rassismus ist in Russland extrem stark ausgeprägt.
Die vielleicht einzige positive Auswirkung des „Großen Kriegs“ ist die Tatsache, dass die westliche Sphäre nun endlich die ukrainische Kultur entdeckt hat. Davor wurde die Ukraine bei uns ja kaum wahrgenommen.
Das stimmt. Das lag auch an den finanziellen Mitteln. Man muss bedenken, dass Russland in den vergangenen Jahren viele Dollar- bzw. Euro-Milliarden investiert hat, um die russische Musik und russische Künstler in der ganzen Welt zu verbreiten. Den Erfolg dieser Investitionen sieht man bis heute. Nicht immer stehen künstlerische Aspekte für die Aufführungen im Vordergrund.
Sie werden demnach in keinen russischen Opern mehr zu erleben sein.
Mir schnürt es bei der russischen Sprache mittlerweile die Kehle zu. Aber ich spreche noch vier weitere Sprachen und stehe abseits meines Belcanto-Kernrepertoires vielen anderen Richtungen offen gegenüber. Ich sehe daher für mich viele Entwicklungsmöglichkeiten.
Das Interview erfolgte am 7. März 2023 in einem Wiener Kaffeehaus.
Italienische Übersetzung des Artikels
Im Albenpanorama 12/2022 schrieb Klaus Kalchschmid über das Album „Passion for Ukraine“: „Am Ende ist man [...] tief betroffen, hatte man doch immer mal wieder Tränen in den Augen, wenn die ukrainische Mezzosopranistin Lena Belkina neben Volksliedern aus ihrer Heimat je drei Lieder von Gregory Alchevskiy (1866-1920), Kyrylo Stetsenko (1882-1922), Mykhailo Zherbin (1911-2004) und Ilia Razumeiko (*1989) zur intensiven Begleitung von Violina Petrychenko am Flügel singt.“
Konzerttermine
12. Mai 2023: Wien, Ehrbar Saal, Schubertiade Wieden
Musik von Schubert, Dvorak, Liatoshynskyi, Ravel und de Falla. Mit Alejandro Picó-Leonís (Klavier)
27. Mai 2023: Almada (Portugal), Festival dos Capuchos
Arien von Händel und Vivaldi. Mit dem Orchester I Solisti Veneti unter Mario Hossen
19. August 2023: Sion Festival, Schweiz
Arien und Werke von Händel, Vivaldi, Grieg, Almashi, Razumeiko. Mit Elena Zhukova (Klavier / Cembalo) und dem Selini Quartett
Link zur Homepage der Sängerin
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