Anna Netrebko

Das doppelte Spiel geht weiter

Bis heute wartet man vergeblich auf ehrliche Worte des Bedauerns der bekannten russischen Opernsängerin. Der von ihr versuchte Spagat ist zum Scheitern verurteilt

Martin Kienzl • 07. Februar 2023

Anna Netrebko versucht den Spagat zwischen Russland und dem Westen © privat

So sehr es sich weite Teile der Operngemeinde auch wünschen, davon unberührt zu bleiben: Die viel zitierte Zeitenwende hat die Klassikwelt längst erreicht. Sie zwingt dazu, die Szene mit anderen Augen zu sehen und schmerzlich zu erkennen, dass – analog zum Ansatz „Wandel durch Handel“ – die lauteren Absichten einer Verständigung und Versöhnung durch kulturellen Austausch zum Teil gescheitert sind. Wir haben uns getäuscht, wenn wir in der Klassikwelt dachten, Gastspiele von Valery Gergiev, Denis Matsuev, Anna Netrebko, Ildar Abdrazakov, Hibla Gerzmava, Teodor Currentzis, Yuri Bashmet und vielen anderen wären unter anderem unterstützende Beiträge zur Sicherung des Friedens.

Valery Gergiev hat nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 die Konsequenzen daraus gezogen, über Jahrzehnte unterstützender Teil des Regimes Putin gewesen zu sein; und damit Kultur auch zur Unterstützung von antiliberalen Kräften und als Waffe gegen unsere westliche Werteordnung und Demokratie eingesetzt zu haben. Er tritt nur mehr in Russland auf, versucht gar nicht, seine politische Unterstützung für den Diktator kleinzureden und Ausreden für sein Handeln zu erfinden. Die „rote Linie, nämlich wenn jemand vom System Putin profitiert und es aktiv unterstützt hat“ (Franz Welser-Möst in der ORF-TV-Sendung „Kulturmontag“ am 27. Juli 2022) wurde klar überschritten.


Willkommene Propaganda

Anders liegt der Fall bei Anna Netrebko, die sich damit abplagt, einen Spagat zwischen Russland und dem Westen hinzubekommen. Doch der Balanceakt mag nicht gelingen: „Kein Wunder, denn Netrebkos Nicht-Haltung passt nicht zu einer Kunstform, die nach gesellschaftlicher Relevanz strebt.“ (SWR, 27.1.2023)

Der Fall Netrebko zeigt exemplarisch, womit wir es unter anderem zu tun haben: Das im Westen erworbene Renommee einer Opernsängerin wird politisch gegen den Westen instrumentalisiert, die Breitenwirkung ihres Handelns in den Dienst von Propaganda für ein Unrechtsregime genommen.

Lange Zeit hat dies aus russischer Sicht reibungslos funktioniert. Hier die hurra-nationalistische Operndiva, die sich einem Diktator andient, eine militärische Aggression befürwortet und in Russland für Putin die Werbetrommel rührt; da die Öffentlichkeit des Westens, bereit sich anlügen zu lassen, politischen Extremismus kleinzureden und bewusst wegzuschauen.

Doch dann kam der 24. Februar 2022, und damit wurde auch dem letzten westlichen Träger einer rosaroten Brille klar, dass bereits mit der Annexion der Krim 2014 in Europa wieder mit Gewalt der Versuch unternommen wird, Territorium zu gewinnen. Die scheinbare Gewissheit, dass so etwas im Europa nach 1945 nicht mehr passieren würde, ging verloren. Ein Wegschauen war nicht mehr möglich.

Nirgendwo im Kulturbereich ist der Wunsch größer als in der Opernwelt, frei von politischen Fragestellungen, in einem vermeintlich von der Welt abgehobenen Raum künstlerisch tätig zu sein. Doch Kunst und Politik sind keine Gegensätze. Eine politikfreie Kunst gab es nie, gerade Opernfreunde sollten dies wissen: Mozart, Beethoven, Verdi, Wagner und viele andere waren hochpolitische Köpfe, die mit Zensur und Obrigkeit in Konflikt standen.


Der Fall Wiesbaden

Uwe Eric Laufenberg bietet Netrebko in Wiesbaden eine Bühne © Sven-Helge Czichy

Die aktuelle Situation lässt keine Flucht in eine Traumwelt zu. Schon gar nicht, wenn man ein Engagement Netrebkos allen Ernstes in den Kontext eines Festivals setzt, das „allen politischen Gefangenen in dieser Welt gewidmet“ ist, wie dies der Intendant der Wiesbadener Maifestspiele Uwe Eric Laufenberg vorhat. Netrebko wurde mit zwei ukrainischen Ensembles aus Charkiw und Kiew zu dem Festival eingeladen. Diese haben postwendend ihre Teilnahme an einem Festival, an dem Netrebko beteiligt ist, ausgeschlossen. Laut einem Dekret, das das ukrainische Präsidialamt am 7. Januar 2023 veröffentlicht hat, wurden 119 Personen, darunter Netrebko, auf eine Sanktionsliste gesetzt. Eine Teilnahme von ukrainischen Künstlern und Netrebko an ein und demselben Festival ist demnach unvereinbar.

Anna Netrebko hat in Worten und Taten Politik gemacht beziehungsweise sie bewusst beeinflusst. Darüber muss man in einer Demokratie diskutieren dürfen. Damit zu argumentieren, dass sie als Künstlerin einzig nach künstlerischen Gesichtspunkten zu betrachten ist, hieße, die Kunst als Schutzschild gegen Kritik an politischen Handlungen zu missbrauchen.

Es ist begrüßenswert, dass die Diskussion um Auftritte russischer Künstler mit dem Wiesbadener Fall nun klar auf der politischen Ebene gelandet ist. Uwe Eric Laufenberg hat erklärt, es sei nicht Aufgabe der Politik, sich bei Sängerbesetzungen einzumischen. Dabei lässt Laufenberg außer Acht, dass er selbst von politischer Seite in seine Position bestellt wurde. Und dass die Letztverantwortung dafür, dass Steuergeld in Einklang mit den Werten des Staates eingesetzt wird, bei der Politik liegt.

Wie jeder Mensch, so ist auch Anna Netrebko nicht nur auf ihren Beruf zu reduzieren. Keine Profession der Welt, auch eine künstlerische nicht, entbindet einen Menschen von seiner Verantwortung gegenüber Anderen. Und gerade das ist Politik – alles, was über uns als Einzelperson hinausgeht und uns mit anderen Menschen verbindet.

Als Opernmanager kann man schwerlich Arturo Toscanini dafür preisen, dem Naziregime den Rücken gekehrt zu haben oder sich mit Kirill Serebrennikov solidarisieren, weil er Kritiker des Putin-Regimes ist – und gleichzeitig darüber hinwegsehen, dass Anna Netrebko den Weg eines Diktators begleitet, die Kriegslust ihrer Landsleute geschürt und nichts davon widerrufen hat.

In diesem Licht ist die aktuelle Bitte des Hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein und des Wiesbadener Oberbürgermeisters Gert-Uwe Mende an den Intendanten des Hessischen Staatstheaters Uwe Eric Laufenberg, die Sopranistin Anna Netrebko nicht zu den Wiesbadener Maifestspielen 2023 einzuladen, zu sehen. Und von höchster Bundesstelle, von Claudia Roths Staatsministerium für Kultur, wurde festgestellt: „Wenn einzelne Personen wie etwa Frau Netrebko in der Vergangenheit eine Unterstützung des Putin-Regimes gezeigt haben und sich mit den sogenannten Separatisten der Donbas-Region haben ablichten lassen – nach der Besetzung der Krim und der Ostukraine – kann die Kulturstaatsministerin gut nachvollziehen, dass es Kritik an einem Auftritt von Frau Netrebko gibt und dass ukrainische Künstlerinnen und Künstler nicht gemeinsam mit ihr an einem Festival teilnehmen möchten.“ (Crescendo, 1.2.2023)


Zweifelhafte Allianz

Laufenberg sieht in Netrebko eine politische Verbündete: „Wir in der westlichen Welt, die wir gerade erleben, wie unsere Freiheit in der Ukraine leider auch mit Waffen und Menschenleben verteidigt werden muss, dürfen nie Künstler und Menschen ausschließen, die zu uns gehören und die wir für den Kampf gegen Unrechtsregimes wie das von Wladimir Putin dringend auf unserer Seite brauchen.“ Ein Satz, der fassungslos macht. Wohl kaum eine Person des öffentlichen Lebens wäre dafür weniger geeignet als Anna Netrebko. Peter Gelb, Direktor der Metropolitan Opera New York, an dessen Haus Netrebko jahrelang jeweils für mehrere Wochen gearbeitet und unzählige Premieren gesungen hat, kennt sie wohl besser als der Hessische Operndirektor, der Netrebko zum ersten Mal engagieren würde. Gelb sagte dem Van-Magazin: „Anna Netrebko ist eine enge persönliche Verbündete Putins, sowohl was ihre Handlungen als auch ihr Mindset angeht – und das weiß ich aus persönlicher Erfahrung, weil ich mit ihr gesprochen habe und sie seit vielen Jahren kenne (...) was ich lange toleriert habe, ist jetzt nicht mehr hinnehmbar.“ (29.6.2022)

Wäre es vorstellbar, dass eine andere staatliche Bildungseinrichtung, beispielsweise eine Schule, jemanden, der mit extremistischen, gegen Demokratie und Rechtsstaat gerichteten Handlungen in Erscheinung getreten ist, auch nur als Hauswart einstellt? Wohl kaum. Das Staatstheater Wiesbaden würde für die beiden «Nabucco»-Vorstellungen eine kolportierte Gage von € 100.000 in die Kassa der Putin-Getreuen einzahlen: „Der öffentliche Konflikt (...) nahm seinen Ausgang, als Uwe Eric Laufenberg, der streitlustige Intendant des Staatstheaters, dem Wiesbadener Magistrat am 10. Januar in vertraulicher Sitzung von der etwa ein halbes Jahr zurückliegenden Verpflichtung der Starsopranistin für stolze 100.000 Euro berichtete“, schreibt Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 29. Januar 2023.


Geschwister im Schönreden

In der Wiener Staatsoper trat Anna Netrebko kürzlich als Aida auf © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Nicht nur das Hessische Staatstheater, auch die österreichischen Bundestheater sind Meister des „Schönredens“. Als Reaktion auf die Sanktionen, mit denen die Ukraine Anna Netrebko belegt hat, reagierten sie im Januar 2023 mit einer Presseaussendung und erklärten wie schon im Vorjahr, dass sie für eine künstlerische Zusammenarbeit mit Personen, die sich mit dem Krieg, seinen Betreibern oder deren Zielen identifizieren, „keine Grundlage“ sehen. Alle drei Punkte treffen nachweislich und bis heute auf Anna Netrebko zu. Dennoch engagiert man sie in Wien. Anders als in Deutschland äußern österreichische Politiker kein Bedenken.

Eine staatliche Kultureinrichtung eines demokratischen Rechtsstaats finanziert mit einem Engagement Netrebkos aus Steuergeldern ein Honorar für eine Person, die durch zweimaligen Wahlaufruf für Putin die Entwicklung ihres Heimatlandes zu einer Diktatur unterstützt hat, die die völkerrechtswidrige Annexion fremden Staatsgebiets bejubelt hat, die öffentlich mit „Auf Berlin!“-Shirts in Erscheinung getreten und damit den revanchistischen Wunsch einer Wiederausdehnung der russischen Machtsphäre bis Berlin ausgedrückt hat, die sich in einer Pressekonferenz an die Seite von gewalttätigen Separatisten gestellt hat.

Zu allen diesen politischen Statements hat Anna Netrebko in einer von ihrem Rechtsanwalt am 30. März 2022 veröffentlichten Aussendung lediglich zu sagen, sie „bedauere, dass ihre Handlungen und Aussagen in der Vergangenheit zum Teil falsch interpretiert werden konnten.“ Was eine Entschuldigung dafür ist, dass jemand Anstoß genommen hat, aber keine Entschuldigung für den Inhalt dieser Statements, geschweige denn deren Widerruf.

Auch eine Distanzierung Netrebkos von Putin ist bis heute nicht erfolgt. Im via Rechtsanwalt verbreiteten Statement von 30. März 2022 steht, dass sie nicht „mit irgendeinem Führer Russlands verbunden“ sei. Dass sie diese Verbundenheit in der Vergangenheit sehr wohl demonstrativ gezeigt hat bzw. wie sie heute dazu steht, wird nicht thematisiert. Eine klare Distanzierung der über Jahre glühenden Putinistin gibt es bis heute nicht. Im Gegenteil: Im Interview für „Die Zeit“ von 2. Juni 2022 erklärt sie, dass „man so etwas nicht machen kann“, er sei ja ihr Präsident. Bei diesem und in Russland ist Netrebko nicht in große Ungnade gefallen, wie oft behauptet wird. Auf der Website des Kremls ist unter events / president / news als Nr. 66716 nach wie vor die Grußbotschaft Putins an Netrebko anlässlich ihres 50. Geburtstags von 18.9.2021 online (Stand 3.2.2023).

Das häufig vorgebrachte Argument, man brächte mit der Aufforderung zu einer klaren Distanzierung von einer Diktatur die jeweilige Person oder deren Verwandte in Gefahr, ist wohlfeil, wenn dieselbe Person bewusst und über das Übliche hinausgehend einen Beitrag dazu geleistet hat, die daraus resultierende Repression zu etablieren. Wer sich mit einem Unrechtsregime gemein macht, hat die Konsequenzen dafür zu tragen. Abgesehen davon hat Netrebko in Russland keine Verwandtschaft. Die Eltern sind verstorben, die Schwester ist seit langem in Dänemark verheiratet.


Doppeltes Spiel

Erschreckend ist, dass Anna Netrebkos doppeltes Spiel unvermindert weitergeht. Ein Zeichen an die russische Seite, dass man deren Aggression gutheißt, eine Entschuldigung und Relativierung an den Westen zu dessen Beruhigung. Bis heute werden Lügen verbreitet, sogar in Situationen, in denen man sich fragt, weshalb. So zuletzt in Reaktion auf die verhängten ukrainischen Sanktionen. Netrebkos Manger Miguel Esteban ließ im Januar via DPA verlauten: „Sie hat kein Vermögen in der Ukraine, sie ist nie in der Ukraine aufgetreten und sie plant nicht, das zu tun.“ Anna Netrebko sang zumindest im Dezember 2010 gemeinsam mit Erwin Schrott in Odessa und im Kiewer Kulturpalast Ukrajina.

Auffällig ist, dass Anna Netrebkos politische Handlungen und Argumentationsmuster erstaunliche Ähnlichkeiten mit jenen des Putin-Regimes aufweisen. 

Gemeinsam mit dem Donbas-Separatistenführer Oleh Anatolijowytsch Zarjow gaben Anna Netrebko und ihr Ehemann Yusif Eyvazov 2014 samt Flagge von „Neurussland“ eine Pressekonferenz (PK). Bis heute erklärt Netrebko, die bei der PK ein Kleid in den Farben von „Neurussland“ trug (!), nicht gewusst zu haben, wer Zarjow ist und dass die Fahne von „Neurussland“ in der PK eingesetzt wird. Putin wusste zunächst auch nicht, wer die „grünen Männchen“ auf der Krim 2014 waren.

Bei dieser PK ging es angeblich nur darum, dass sie dem Opernhaus von Donezk eine private Spende zukommen lässt. Die für Russland kämpfenden Wagner-Söldner sind laut Kreml auch nur eine private Organisation.

Als Anfang 2022 immer mehr russische Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen wurden und westliche Politiker von der Gefahr eines russischen Angriffs sprachen, erklärte der Kreml, sie würden hier – wie im Falle von Netrebkos Donbas-PK – „falsch interpretieren.“

Im „Zeit“-Interview von 2. Juni 2022 sieht Netrebko ihre „Aufgabe darin, gegen jegliche Russophobie anzukämpfen, indem ich auf der Bühne auftrete und singe…“ Ganz im Einklang mit Putin, der in seiner Rede zur Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte am 21. September 2022 erklärte, dass „der Westen Russophobie schürt, vor allem in der Ukraine, für die er die Funktion eines antirussischen Brückenkopfes vorgesehen hat.“ Angesichts dessen, dass Russland mordend und bombend in ein Nachbarland eingefallen ist, von einer Phobie, einer unverhältnismäßig großen Angst zu sprechen, ist an Zynismus kaum zu überbieten. 

Der Kampf Russlands gegen den Willen der Ukrainer, souverän über ihr Schicksal zu entscheiden, bringt unermessliches Leid über die Ukraine. Bis heute wartet man vergeblich, aus Netrebkos Mund ehrliche Worte des Bedauerns und eine klare Distanzierung von der Politik des Kremls zu hören.  

Das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst zieht daraus Konsequenzen. Man habe „nicht die Absicht, die Opernvorstellungen mit Frau Netrebko zu unterstützen.“ Die Einladung von Netrebko und die Tatsache, dass ihr Name in einer Pressemitteilung des Staatstheaters Wiesbaden mit der von Opfern von Unrechtsregimes genannt wird, wird „als Provokation gegenüber allen wahrgenommen, die unter den täglichen Angriffen Russlands auf die Ukraine leiden oder bei uns davor Schutz suchen.“

Menschliche Rücksichtnahme gebietet es, die Schmerzen von Menschen nicht noch zu verstärken, indem man jene fördert, die ihre Peiniger unterstützen. In einem demokratischen Rechtsstaat gibt es derzeit keinerlei Grundlage, Anna Netrebko für eine Bühne, die aus Steuergeld finanziert wird, zu engagieren.


Martin Kienzl war von 1988 bis 2020 im Kulturbereich tätig, darunter zehn Jahre als österreichischer Produktmanager von Universal Music für Klassik. In dieser Funktion war er mit Anna Netrebko beruflich und darüber hinaus bis 2014 persönlich verbunden. (hinzugefügt am 13.02.2023)
 

Englische Übersetzung des Artikels

Italienische Übersetzung des Artikels

Russische Übersetzung des Artikels
 



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