Bayreuther Festspiele
Das Team Schwarz schuf Neues
Zum letzten Mal wurde die vieldiskutierte Sicht auf Wagners «Der Ring des Nibelungen» des Produktionsteams von Valentin Schwarz gezeigt. Eine Schlussbetrachtung
Stephan Burianek • 24. August 2025

Für einen kurzen Moment vergaß Jennifer Holloway, dass sie noch in der Rolle einer Schwangeren steckte. Soeben war ihr beim Zwischenapplaus nach dem ersten «Walküre»-Aufzug ein Beifallssturm entgegengebraust, der selbst für das sängerfreundliche Bayreuther Festspielpublikum nicht alltäglich ist. Holloway hüpfte sichtlich erfreut, winkte dem Publikum – und besann sich dann doch wieder auf ihren künstlichen Bauch.
Wer in der Regie von Valentin Schwarz für Sieglindes Schwangerschaft verantwortlich war, das sollte erst der nächste Aufzug enthüllen. Ihr Gatte Hunding war es wohl nicht, denn welcher werdende Vater wirft seine Frau brutal zu Boden, und sei es im Zorn? Siegmund konnte es auch nicht sein, denn der hatte seine Schwester gerade erst wiedergefunden. Nein, es war tatsächlich ihr Vater Wotan, der im Folge-Akt die Hüllen fallen ließ, indem er der Schlafenden den Slip herunterzog.
Es sind Einfälle wie diese, die gestrenge Wagnerianer in den vergangenen Jahren gar nicht goutierten, in ihrer unbändigen Wut sogar gegenüber einem Regie-Befürworter handgreiflich geworden waren. Dabei übersahen diese Wagner-Talibans aber, dass Schwarz über weite Strecken mit ungemeinem Scharfsinn und Stoffkenntnis die Essenz jener Familienaufstellung freigelegt hatte, die dem «Ring des Nibelungen» innewohnt. Zugleich veränderte er gemeinschaftlich mit seinem Produktionsteam originale Bezüge im Bestreben einer durchgängigen Handlung, denn im Originalwerk holpert es durchaus an der einen oder anderen Stelle. Vor der Premiere sagte Schwarz in einem Interview mit OPERN·NEWS: „Wie jedes große Werk ist der »Ring« als Monolith kein Diamant, der von allen Seiten gleich zurechtgeschliffen wurde. Er besitzt keine Makellosigkeit, sondern hat hier und da einen Bruch, eine Fehlstelle oder Leerstelle, teilweise auch dramaturgische Rätsel, die uns begegnen. Diese Divergenz trotzdem zu einem Gesamterlebnis zu formen, dem Zuschauer eine Gesamterfahrung zu bieten, die sich nicht in einzelnen Motiven verheddert, das ist für mich der wesentliche Auftrag.“

Das Regiekonzept fokussierte auf die psychologisch auffälligen Familienkonstellationen der Figuren. Als zentrale Überlegung ersetzte man originale Gold gegen das Wertvollste und zugleich Zerbrechlichste innerhalb jeder Familie: Das Gold sind die Kinder. Um diesen Blick im Heute zu schärfen, eliminierte das Team Schwarz jegliche Romantik und Magie und stellte eine realistische Handlung im Stil einer TV-Soap-Opera auf die Bühne. Weil zwischen «Walküre», «Siegmund» und «Götterdämmerung» jeweils etwa zwanzig Jahre liegen und die Figuren in einer realistischen Interpretation folglich zu altern haben, wechseln die Kinder im Laufe des Handlung bzw. werden zu Erwachsenen.
Die schlüssigste Interpretation
Der Dramaturg Konrad Kuhn erklärte auf Nachfrage von OPERN·NEWS, das Regieteam habe das Ergebnis in diesem Sommer, in dem seine Arbeit zum letzten Mal zu sehen gewesen war, als „die geschlossenste Interpretation“ empfunden. Letztlich habe in den vergangenen Jahren die Besetzung für die jeweilige Interpretation – auch im Sinne des Bayreuther Werkstatt-Gedankens – den größten Ausschlag gegeben. „Da es uns sehr darum ging, die vier Teile als durchgehende Geschichte zu erzählen, ist es ein Glücksfall, für die beiden Wotane und den Wanderer sowie für die drei Brünnhilden und die beiden Siegfriede 2024 und 2025 jeweils einen Sänger bzw. eine Sängerin zu haben“, so Kuhn.
Bereits bei den wegen Corona um zwei Jahre verspäteten «Ring»-Zyklen im Jahr 2022 stand Tomasz Konieczny als Wotan in der «Walküre» und in «Siegfried» auf der Bühne, ab 2023 zusätzlich auch im «Rheingold». Herrlich war, wie überzeugend vielschichtig, mehrfarbig und beinahe liedhaft expressiv Konieczny diese immens fordernde Partie in diesem Jahr während des zweiten Zyklus gestaltete. Selten hört man diese Partie(n) psychologisch derart durchdrungen.
Ab 2023 war Catherine Foster die Brünnhilde in «Walküre» und «Götterdämmerung», ab 2024 auch in «Siegfried». Ihr von der Anstrengung manchmal getrübter, in den entscheidenden Stellen aber kräftiger, verlässlich leuchtender Sopran begeisterte ebenso wie die Sicherheit, mit der Klaus Florian Vogt (seit 2024 nebst Hauptpartien in anderen Werken) den Siegfried in den letzten beiden Teilen der Tetralogie sang. In der Gestik und Mimik zwar stets ein wenig hölzern, hat sein einst engelhafter Tenor längst an Reife gewonnen.
Auch abseits dieser Schlüsselpartien ist es schwer vorstellbar, dass ein anderes Haus der Opernwelt derzeit einen besser besetzten «Ring»-Zyklus bieten kann, als dies in diesem Jahr in Bayreuth der Fall gewesen ist. Das lag nicht nur an Michael Spyres, der mit technischer Finesse und Stimmwucht einen Referenz-Siegmund lieferte. Als Hunding imponierte Bayreuth-Debütant Vitalij Kowaljow mit sonorer Stimmgewalt und guter Diktion. Seit Inszenierungsbeginn war Olafur Sigurdarson zudem als Alberich eine sichere, kräftige Bank und Ya-Chung Huang (seit 2024) ein ebenso erstklassiger Mime. Loge ist bei Schwarz ein schmieriger Anwalt mit langen Haaren, ihn meisterte Daniel Behle (erstmals in dieser Partie am Grünen Hügel) untypisch lyrisch und klangschön. Selbst Rollen, die in der Menge an Solisten oftmals untergehen, konnten sich in diesem Jahr behaupten, darunter der Donner von Nicholas Brownlee – von der Regie treffend als Nichtsnutz im Anzug mit Golfschläger statt einem Hammer gezeichnet.

Ein wenig befremdlich klang im «Rheingold» die Fricka von Christa Mayer, in der «Walküre» tags darauf – in der sie zusätzlich eine der Walküren übernahm – schien sich die Stimme stabilisiert zu haben. Ein sonorer Traum war indes der Fafner von Tobias Kehrer, insbesondere als im Krankenbett dahinsiechender Alter in «Siegfried». Und als die Bayreuth-Debütantin Anna Kissjudit im «Rheingold» ihren kurzen, aber wichtigen Auftritt als Erda hatte, ging dieser – unterstützt von einem Überraschungseffekt durch die Regie – durch Mark und Bein. Kissjudit lieferte nicht nur Schöngesang, ihr einzigartiges Timbre verschaffte ihrer Figur eine selten zu spürende Autorität.
Hinzu kam, dass Simone Young mit den akustischen Besonderheiten des Bayreuther Festspielhauses bestens zurecht kam und die Orchesterfarben erstklassig ausbalanciert leuchten ließ, wobei mitunter ein fließender, symphonischer Ansatz über die musikdramatische Gestaltung obsiegte. Wünschte man sich in den ersten beiden Teilen noch etwas mehr Dynamik, mehr Vehemenz, mehr Kanten, so gingen ab «Siegfried» die Szene und die Musik eine idealtypische Symbiose ein.
Bereicherung der Rezeptionsgeschichte
Es lag bestimmt nicht an der musikalischen Qualität, dass nach dem Ende eines «Siegfried»-Akts ein wütender Buh-Ruf den Zwischenapplaus einleitete. Auch im vierten Jahr konnte sich so mancher nicht mit dem Regiekonzept anfreunden. Es ist seit einigen Jahren bei Regisseuren beliebt, jegliche Romantik und jeglichen Zauber aus romantischen Werken zu eliminieren. So auch hier: Ob Götter, Riesen oder Nibelungen – sie alle werden als Menschen und somit als Sterbliche gezeigt. Anders als etwa im «Fliegenden Holländer» oder im «Freischütz», in denen sämtliche derartige Versuche als gescheitert angesehen werden können, funktionierte das bei Valentin Schwarz im «Ring des Nibelungen» über weite Strecken überraschend gut. Wagners «Ring» ist eben weit mehr als eine reine Märchen- und Sagengeschichte.
Wotan wird von Schwarz als narzisstisches Oligarchen-Familienoberhaupt gezeichnet – und überträgt das Werk damit in eine Gegenwart, in der es von zeitgenössischen Entsprechungen nur so zu wimmeln scheint: Ebenso wie ein Elon Musk hat Wotan mit mehreren Frauen dutzende Kinder gezeugt, von denen er manche mehr, manche weniger lieb hat – und die er für seine Zwecke mehr oder weniger instrumentalisiert. Ebenso wie Donald Trump bedient sich Wotan hier des Anwalts Loge, um seine Rechtsbrüche durchzusetzen und seine Gegner einzuschüchtern, und ebenso wie bei allen Autokraten funktioniert die Fassade des starken Mannes nur so lange, wie sein unmittelbares Umfeld an diese Stärke glaubt. Wotans fehlendes soziales Feingefühl, sein Kontrollwahn und seine Machtgier sind weitere offensichtliche Parallelen zu den genannten Personen. Und geisterten in den vergangenen Jahren nicht auch Nachrichten zu einer Kindsentführung innerhalb einer wohlhabenden Gastronomen-Familie durch die Medien?

Schwarz zeigt in dieser Arbeit außerdem den degenerierenden Einfluss des egomanischen Machtstrebens auf die nachfolgende Generation sowie deren Orientierungslosigkeit. In der düster ausgeleuchteten «Götterdämmerung» entfernt sich Schwarz dann aber doch allzu sehr von Wagners Vorlage, die nach der unvermeidlichen Katastrophe die Hoffnung auf Besinnung und auf ein gesundes Miteinander in der Zukunft nährt. Fafners Schlagring, der in der Schwarz’schen Inszenierung zunächst dem ersten „Ring“-Kind vermacht worden war, wird von diesem an die nächste Generation weitergegeben. Das Recht des Stärkeren und die damit verbundene Brutalität werden den Lauf der Menschheit weiterhin bestimmen. Keine Hoffnung, nirgendwo. Das mag eine realistische Annahme sein, aber wenn beim Zuschauer am Ende die Rührung ausbleibt, dann hat man als Regisseur womöglich das zerstört, was man in den etwa 16 Stunden davor mühevoll aufgebaut hatte.
Unabhängig davon schrieb sich das Team Schwarz gleich in mehrfacher Hinsicht in die fast 150-jährige Rezeptionsgeschichte ein. Die mutige Umsetzung der zentralen Idee, das Gold durch Kinder darzustellen, war zweifellos erfrischend und wird noch lange Gesprächsstoff bleiben. Auch noch nicht gesehen: Freia nimmt sich nach einer offenbaren Vergewaltigung durch Fasolt traumatisiert das Leben, Mime ist pädophil, die Walküren reiten nicht, sondern versammeln sich in einer Schönheitsklinik, wo sie das Sicherheitspersonal des Kontrollfreaks Wotan anmachen. Und Wotan schleudert seiner Gattin Fricka nach Siegmunds Tod und Brünnhildes Verbannung den Ehering zu Füßen.
Das meiste davon funktionierte, wenn man die Bereitschaft zu einer Werkdeutung aufbrachte. Hinzu kam, dass Schwarz‘ Witz mitunter an Regiegrößen wie Peter Konwitschny oder Christoph Marthaler denken ließ – etwa dann, wenn Wotan im dritten «Walküre»-Aufzug Brünnhilde sucht. Statt auf Rössern reitend, halten sich Brünnhildes Walküren-Schwestern nach Schönheitsoperationen in einer Klinik auf. Weil er darunter Brünnhilde vermutet, reißt Wotan einer der Walküren die frischen Bandagen vom ab da schmerzverzerrten Gesicht. Oder jene Szene, in der sich Siegfried und die von Fafner sexuell belästigte Pflegekraft (im Original der Waldvogel) näher kommen, indem Siegfried seine asiatischen Nudeln anbietet und der neugewonnenen, hungrigen Freundin aus Futterneid dann doch wieder entreißt.
Der Anspruch der Bayreuther Leitung, bei der Interpretation von Wagner-Werken federführend und „heutig“ zu sein, wurde mit dem Schwarz-«Ring» ebenso erfüllt wie im derzeitigen «Parsifal», den die Besucher in den letzten vier Reihen – erstmals in der Operngeschichte – mit einer Augmented-Reality-Brille verfolgen können. Auch wenn die Technik dafür noch nicht ganz ausgefeilt ist (zu dunkel, zu warm, zu schwer), zeigt das Katharina Wagners Mut zur Innovation. Wenn im kommenden Jubiläumsjahr unter der musikalischen Leitung von Christian Thielemann ein neuer «Ring» gestemmt werden wird, dann soll erstmals überhaupt eine Künstliche Intelligenz inszenieren. Das mag für viele eine Horrorvorstellung sein, spannend klingt dieses Vorhaben zweifellos.
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