Causa Anna Netrebko
Gefährliche Vorbildwirkung
Mächtige Intendanten in Europa erklären die russische Sängerin für rehabilitiert – und kaschieren damit ihre eigenen Versäumnisse
Martin Kienzl • 13. April 2023
Um es vorauszuschicken: Wenn hier wieder der Fall Anna Netrebko angesprochen wird, so nicht, um einzelne Personen anzuschwärzen oder ihnen persönlich zu schaden. Vielmehr soll diese Causa Anlass sein, darüber zu reflektieren, was einen Künstler ausmacht, welche Kriterien dafür in Zukunft gelten sollten und wie wir – und das schließt die Opernwelt mit ein – uns verhalten sollten, um uns Freiheit, Toleranz und Demokratie zu erhalten.
Die Geschichte lehrt uns, dass das Böse in kleinen Schritten naht, dass jeder dieser Schritte zu klein für die große Empörung ist und es letztlich meist zu spät ist, die volle Entfaltung des Bösen zu verhindern.
Daher müssen wir uns immer wieder vor Augen halten, wie diese scheinbar kleinen Schritte aussehen, die auch Vertreter der Klassik-Welt machen. Dazu zählen: Sympathiebekundungen für Demokratiefeinde, aus westlichen Steuergeldern finanzierte Auftritte von Propagandisten eines Terrorregimes, Wahlaufrufe für Autokraten, Propaganda für Revanchismus und Imperialismus, Gutheißen von nach UN-Kriterien ungültigen „Referenden“ (Justus Frantz und Ioan Holender erklärten hinsichtlich der Krim-Abstimmung von 2014 unisono, man solle dem „Willen der Menschen“ folgen1), Legitimierung von Alleinherrschaft, Unterstützung von mordenden und brandschatzenden Terroristen, Befeuerung von Angriffskriegen und die Ablehnung von Pluralismus.
Leider leben wir wieder in Zeiten, in denen man in Erinnerung rufen muss, dass die ohne Konsequenzen bleibende Hinnahme dieser „kleinen Schritte“ in eine Katastrophe zu führen droht. Wird das Paktieren mit Totalitarismus und Terror im Westen zur „salonfähigen Normalität“ erklärt, so wird unsere Demokratie von Politikern wie Putin als schwach und lächerlich diskreditiert.
Bruno Walter, der große Dirigent, der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammte und vor den Nazis fliehen musste, begegnete nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs im September 1947 erstmals wieder den Wiener Philharmonikern. Er begrüßte das Orchester mit den Worten „Wir Musiker müssen uns entscheiden. Entweder wir wollen guten Willens sein, oder wir wollen es nicht. Und wir müssen Vorbild sein.“
Die Gesellschaft macht den Unterschied
Welche Vorbildwirkung hat es für die nachfolgenden Generationen, wenn die oben genannten „kleinen Schritte“ allgemein hingenommen werden? Welche Signale sendet es an junge Künstler aus, wenn erfolgreich vorgelebt wird, dass man durch oben angeführte Handlungen ungestraft die Karriere befördern kann und dass es folgenlos bleibt, sich der Unterstützung von autoritären, demokratiefeindlichen Gruppierungen zu bedienen? Welche Auswirkungen hat es auf unsere Gesellschaft, wenn weggeschaut wird, wenn politische Positionen bezogen werden, die auf eine Zerstörung einer rechtebasierten Werteordnung abzielen? Wie wachsam und in unseren Ansichten gefestigt bleiben wir? Die lettische Verteidigungsministerin Inara Murniece hat dazu kürzlich einen bemerkenswerten Satz gesagt: „Denn wir wissen aus der Erfahrung der Ukraine, dass es ohne eine moralisch stabile und vorbereitete Gesellschaft nicht möglich ist, einem Aggressor entgegenzutreten.“ 2
Angesichts dessen, dass in Europa – sehr im Gegensatz zu den USA – ein Intendant nach dem anderen demonstriert, dass es für das Engagement eines Künstlers irrelevant ist, ob dieser seine auf den Bühnen erworbene Bekanntheit dazu nutzt, gegen Freiheit, Demokratie und Frieden zu kämpfen, muss man vor den damit verbundenen Gefahren einmal mehr warnen.
Gerade in der Welt der Kunst, zu deren Aufgaben es gehört, die Zeit kritisch zu betrachten und Menschen zu sensibilisieren, sollte man eine erhöhte Wachsamkeit für diese Gefährdungen und für Fragen der Ethik erwarten. Wenn große Teile der Wirtschaft und einige Vertreter der Politik sich in ihrem Handeln in erster Linie von materiellen Überlegungen leiten lassen, so sollte doch gerade die Kunst darüber hinaus gehend über den Zustand der Gesellschaft kritisch reflektieren und wenn notwendig Mahner sein.
Intendanten ohne Kompass
Wo waren denn 2014, als dieser völkerrechtswidrige Krieg eigentlich begann, die meisten Direktoren und Intendanten, die sonst nicht müde werden, auf ihren Bühnen den Weg in den Abgrund und Genozid in den Dreißigerjahren verhandeln zu lassen und zur Wachsamkeit vor ähnlichen Entwicklungen in der Gegenwart aufzurufen? Wie kann es sein, dass selbst 2022, als es klar wurde, dass hier ein Genozid begonnen wurde, die Empörung bei vielen ausblieb und bis heute ausbleibt?
Man kann diese Wegschauer und Schönfärber nicht aus der Verantwortung nehmen, auch sie trifft ein Teil der Schuld, dass es zu der Katastrophe dieses Kriegs kommen konnte. Gibt es noch einen moralischen Kompass, oder ist er uns bereits abhandengekommen? Angesichts dessen, dass es nach wie vor Intendanten gibt, deren Führungsstil vorgestrig autoritär ist, die bedenkenlose Künstler, die Gewalt befeuern oder #MeToo-Täter sind, engagieren, zweifelt man daran.
In die Reihe derer, die frei nach dem zeitgeistigen Motto „Auf’s Gewissen wird geschissen“ (© Österreichs Nationalratsabgeordnete Maria Grossbauer3), Anna Netrebko wieder einladen, hat sich Anfang April nun zögerlich, aber doch, Berlins Staatsopern-Intendant Matthias Schulz gestellt. Ganz wohl scheint ihm bei dieser Entscheidung nicht zu sein. Wenn man das von Andreas Jölli geführte Interview im Ö1 Morgenjournal von 3. April 2023 anhört, klingen da starke Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung durch. Getroffen wurde sie dennoch. Das Argument dafür: „Sie zeigt in ihrem Handeln, dass sie sich für europäische Bühnen entschieden hat. Es wäre für mich ein großes Problem, wenn sie plötzlich bei den Sankt Petersburger Weißen Nächten auftreten würde.“
So sicher darf sich Matthias Schulz dessen nicht sein. Netrebko steht auch im März 2023 auf der Künstlerliste ihrer seit Jahrzehnten für sie in Russland arbeitenden Agentur Berin-Iglesias (Zitat Maxim Berin gegenüber dem Autor: „Welche Art von Dialekt soll bitte Ukrainisch sein?“ 4 ).
Erst am 24. Februar 2023 veröffentlichte die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA einen großen Artikel „Wie unsere Stars Europa und die USA erobern“. In diesem werden die Mailänder und Wiesbadener Netrebko-Abende als Beweis dieser „Eroberung“ aufgelistet – und deren Intendanten Dominique Meyer und Uwe Eric Laufenberg dementsprechend abgefeiert (von wegen Netrebko sei in Russland nicht mehr gelitten!). RIA ist jene Nachrichtenagentur, die am 3. April 2022 den Artikel „What Russia should do with Ukraine“ veröffentlichte, welcher der Ukraine ihr Existenzrecht abspricht und den russischen Überfall auf die Ukraine legitimiert.
Netrebko ist für das Putin-Regime derzeit offensichtlich „in Wartestellung“. Der am 9. Mai 2010 in Wien auf Netrebkos Kleidung deutlich artikulierte Wunsch, die russische Machtsphäre wieder bis Berlin auszudehnen, scheint noch nicht ausgeträumt. Mutmaßlich ist dann mit Netrebkos Mitwirkung an der „Siegesfeier“ anlässlich der „Rückabwicklung“ der deutschen Wiedervereinigung am Brandenburger Tor zu rechnen. Bis dahin wird sie ihren Lebensmittelpunkt womöglich nach Baku verlegen. In der Hauptstadt von Aserbaidschan, das auf dem Index der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen aktuell auf Platz 154 von insgesamt 180 Staaten gelistet wird, wurde ihr Ehemann Yusif Eyvazov vor wenigen Tagen zum Operndirektor ernannt. 5
Derzeit singt Anna Netrebko also (noch?) nicht in Russland. Aufgrund öffentlichen Drucks nicht mehr in dem Terrorstaat aufzutreten, den man in Worten und Taten unterstützt und dies nie widerrufen hat, ist demnach schon ausreichend, um wieder in Berlin und anderswo engagiert zu werden. Wieder fließen deutsche Steuergelder an eine Person, die in der Vergangenheit unverhohlen für die Bekämpfung unserer Demokratie eingetreten ist, der Ukraine ihre nationale Identität abgesprochen hat und zur gewaltsamen Revision der Europäischen Nachkriegsordnung aufgerufen hat.
Dass ihre Aussage „Ich möchte, dass dieser Krieg aufhört“ von europäischen Intendanten gleichsam als Entschuldigung für diese Entgleisungen akzeptiert wird, ist durchaus verwunderlich – denn selbst Putin würde diese Worte, freilich in seiner Logik gedacht, mit gutem Gewissen unterschreiben.
Andreas Jölli hakte bei Matthias Schulz nach: „Hat sie sich ausreichend von Putin distanziert?“ Schulz: „Nach meinem Geschmack nicht wirklich ausreichend in Worten, das kann man so nicht sagen.“
Zur Ehrenrettung der Musikwelt sei zum Schluss festgehalten, dass nicht alle Angehörigen dieser Community so wie Matthias Schulz, Alexander Neef, Nikolaus Bachler, Uwe Eric Laufenberg, Dominique Meyer, Kai Gniffke oder Bogdan Roščić denken und handeln. Es gibt noch Menschen, die sich einer ethischen Grundhaltung verpflichtet fühlen, auch in der Opernwelt. Die Geschichte wird ihnen Recht geben.
Englische Übersetzung dieses Artikels
Russische Übersetzung dieses Artikels
Italienische Übersetzung dieses Artikels
Verweise
1 Servus-TV-Sendung „Kultour mit Holender“ am 3. Januar 2021
2 Mit einem Satz hält uns Putins kleiner Nachbar den Spiegel vor. – von: Ulrich Reitz, in: focus.de, 6. April 2023
3 ORF-Sendung „Seitenblicke“, 29. März 2023
4 Am 5. Dezember 2010 nach einem Konzert im Palast Ukrajina in Kiew
5 Netrebko's loyal husband poses in his new domain. - von: Norman Lebrecht, in: slippedisk.com, 11. April 2023
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